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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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I. Der Selbständigkeitstrieb. 3. Selbsterhaltungstrieb des Rechts. §. 27.
in ihrem ganzen Verlauf zu überschauen, sondern die Bildung
des dritten Systems ihr mehr als irgend eine andere Thatsache
Veranlassung gab, sich zu bethätigen.

In der gegenwärtigen Periode war nun diese Kunst vor
allem geschäftig, die neuen Rechtsbildungen in dieser Weise an
das Zwölftafeln-Gesetz anzuknüpfen, letzteres beständig als den
Stamm hinzustellen, der vermittelst jener Bildungen nur Zweige
getrieben und sich mit Blättern und Blüthen bedeckt habe. In
diesem Lichte erschien den spätern Römern das Recht der Zwölf
Tafeln nicht als ein nackter, dürrer Stamm, wie er dies ur-
sprünglich in der That war, sondern als ein majestätischer, le-
bensvoller Baum, und von dieser Anschauung aus werden die
ungemessenen Lobsprüche verständlich, die sie dem Gesetz spende-
ten, und die man unbegreiflich finden muß, wenn man letzteres
bloß in seiner ursprünglichen nackten Gestalt ins Auge faßt.68)

Das schließliche Resultat unserer bisherigen Ausführung
besteht also darin, daß sich bei jenem Gesetz alles vereinigte, um
demselben eine lange Dauer und eine ungeschmählerte Herrschaft
zu sichern. In seiner Jugendzeit verlieh ihm seine Bedeutung
als einer Magna Charta der Plebejer wenigstens hinsichtlich
aller Concessionen, die es enthielt, den Charakter der Un-
verletzlichkeit. Als mit dem Aufhören des praktischen Gegensatzes
zwischen Patriziern und Plebejern dieser Gesichtspunkt hinweg-
gefallen, war das Gesetz bereits aufs innigste mit dem römischen
Leben verwachsen. Seine innere Bildungsfähigkeit sowie die
Pflege von Seiten der Jurisprudenz erhielt dasselbe noch lange
auf der Höhe des Lebens, und sein Alter, anstatt seinen Einfluß

68) Cicero de orat. I. c. 44: Bibliothecas mehercule omnium philo-
sophorum unus mihi videtur XII tabularum libellus, si quis legum fon-
tes et capita viderit, et auctoritatis pondere et utilitatis ubertate supe-
rare ..... Quantum praestiterint nostri majores prudentia ceteris gen-
tibus, tum facillime intelligetis, si cum illorum Lycurgo et Dracone et
Solone nostras leges conferre volueritis. Incredibile est enim, quam sit
omne jus civile praeter hoc nostrum inconditum ac paene ridiculum
.

I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 3. Selbſterhaltungstrieb des Rechts. §. 27.
in ihrem ganzen Verlauf zu überſchauen, ſondern die Bildung
des dritten Syſtems ihr mehr als irgend eine andere Thatſache
Veranlaſſung gab, ſich zu bethätigen.

In der gegenwärtigen Periode war nun dieſe Kunſt vor
allem geſchäftig, die neuen Rechtsbildungen in dieſer Weiſe an
das Zwölftafeln-Geſetz anzuknüpfen, letzteres beſtändig als den
Stamm hinzuſtellen, der vermittelſt jener Bildungen nur Zweige
getrieben und ſich mit Blättern und Blüthen bedeckt habe. In
dieſem Lichte erſchien den ſpätern Römern das Recht der Zwölf
Tafeln nicht als ein nackter, dürrer Stamm, wie er dies ur-
ſprünglich in der That war, ſondern als ein majeſtätiſcher, le-
bensvoller Baum, und von dieſer Anſchauung aus werden die
ungemeſſenen Lobſprüche verſtändlich, die ſie dem Geſetz ſpende-
ten, und die man unbegreiflich finden muß, wenn man letzteres
bloß in ſeiner urſprünglichen nackten Geſtalt ins Auge faßt.68)

Das ſchließliche Reſultat unſerer bisherigen Ausführung
beſteht alſo darin, daß ſich bei jenem Geſetz alles vereinigte, um
demſelben eine lange Dauer und eine ungeſchmählerte Herrſchaft
zu ſichern. In ſeiner Jugendzeit verlieh ihm ſeine Bedeutung
als einer Magna Charta der Plebejer wenigſtens hinſichtlich
aller Conceſſionen, die es enthielt, den Charakter der Un-
verletzlichkeit. Als mit dem Aufhören des praktiſchen Gegenſatzes
zwiſchen Patriziern und Plebejern dieſer Geſichtspunkt hinweg-
gefallen, war das Geſetz bereits aufs innigſte mit dem römiſchen
Leben verwachſen. Seine innere Bildungsfähigkeit ſowie die
Pflege von Seiten der Jurisprudenz erhielt daſſelbe noch lange
auf der Höhe des Lebens, und ſein Alter, anſtatt ſeinen Einfluß

68) Cicero de orat. I. c. 44: Bibliothecas mehercule omnium philo-
sophorum unus mihi videtur XII tabularum libellus, si quis legum fon-
tes et capita viderit, et auctoritatis pondere et utilitatis ubertate supe-
rare ..... Quantum praestiterint nostri majores prudentia ceteris gen-
tibus, tum facillime intelligetis, si cum illorum Lycurgo et Dracone et
Solone nostras leges conferre volueritis. Incredibile est enim, quam sit
omne jus civile praeter hoc nostrum inconditum ac paene ridiculum
.
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[73/0087] I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 3. Selbſterhaltungstrieb des Rechts. §. 27. in ihrem ganzen Verlauf zu überſchauen, ſondern die Bildung des dritten Syſtems ihr mehr als irgend eine andere Thatſache Veranlaſſung gab, ſich zu bethätigen. In der gegenwärtigen Periode war nun dieſe Kunſt vor allem geſchäftig, die neuen Rechtsbildungen in dieſer Weiſe an das Zwölftafeln-Geſetz anzuknüpfen, letzteres beſtändig als den Stamm hinzuſtellen, der vermittelſt jener Bildungen nur Zweige getrieben und ſich mit Blättern und Blüthen bedeckt habe. In dieſem Lichte erſchien den ſpätern Römern das Recht der Zwölf Tafeln nicht als ein nackter, dürrer Stamm, wie er dies ur- ſprünglich in der That war, ſondern als ein majeſtätiſcher, le- bensvoller Baum, und von dieſer Anſchauung aus werden die ungemeſſenen Lobſprüche verſtändlich, die ſie dem Geſetz ſpende- ten, und die man unbegreiflich finden muß, wenn man letzteres bloß in ſeiner urſprünglichen nackten Geſtalt ins Auge faßt. 68) Das ſchließliche Reſultat unſerer bisherigen Ausführung beſteht alſo darin, daß ſich bei jenem Geſetz alles vereinigte, um demſelben eine lange Dauer und eine ungeſchmählerte Herrſchaft zu ſichern. In ſeiner Jugendzeit verlieh ihm ſeine Bedeutung als einer Magna Charta der Plebejer wenigſtens hinſichtlich aller Conceſſionen, die es enthielt, den Charakter der Un- verletzlichkeit. Als mit dem Aufhören des praktiſchen Gegenſatzes zwiſchen Patriziern und Plebejern dieſer Geſichtspunkt hinweg- gefallen, war das Geſetz bereits aufs innigſte mit dem römiſchen Leben verwachſen. Seine innere Bildungsfähigkeit ſowie die Pflege von Seiten der Jurisprudenz erhielt daſſelbe noch lange auf der Höhe des Lebens, und ſein Alter, anſtatt ſeinen Einfluß 68) Cicero de orat. I. c. 44: Bibliothecas mehercule omnium philo- sophorum unus mihi videtur XII tabularum libellus, si quis legum fon- tes et capita viderit, et auctoritatis pondere et utilitatis ubertate supe- rare ..... Quantum praestiterint nostri majores prudentia ceteris gen- tibus, tum facillime intelligetis, si cum illorum Lycurgo et Dracone et Solone nostras leges conferre volueritis. Incredibile est enim, quam sit omne jus civile praeter hoc nostrum inconditum ac paene ridiculum.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/87>, abgerufen am 28.03.2024.