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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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I. Der Selbständigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28.
Für die jetzige Periode und für Rom und Italien werden wir
dies nicht annehmen dürfen, jedenfalls kann dadurch das In-
teresse der Einrichtung, um die es sich hier handelt, die recht-
liche Unterordnung eines großen Theils des Steuerwesens un-
ter die Justiz nicht vermindert werden.

Eine andere für den Gesichtspunkt, den wir hier verfolgen,
höchst charakteristische Erscheinung ist die Vorliebe der Römer,
Streitigkeiten, die an und für sich gar keine civilrechtliche Be-
deutung hatten, auf dem Wege des Civilprozesses zur
Entscheidung zu bringen. Die sponsio praejudicialis, die pro-
zessualische Wette, gab hierfür eine Form von unbegränzter
Weite; das Anerbieten einer solchen Sponsion brauchte aller-
dings nicht angenommen zu werden, enthielt aber doch eine
Art von moralischem Zwang. Wir finden nun nicht bloß, daß
Privatpersonen sich dieses Mittels bedienten, sondern auch Be-
amte unter sich,85) Beamte gegen Privatpersonen86) und umge-
kehrt letztere gegen jene, um durch gerichtliche Erhärtung irgend
eines vorgeschützten Entschuldigungsgrundes den Lauf einer
gegen sie verhängten Maßregel zu sistiren.87) So diente dies
Mittel namentlich auch dazu, um den Grund oder Ungrund ge-
machter Beschuldigungen zu constatiren, Jemanden auch ohne
oder noch vor dem judicium publicum eines Verbrechens zu
überführen, staatsrechtliche Streitigkeiten zur Entscheidung zu
bringen u. s. w.88)

Die Neigung der Römer für die Ausdehnung des civil-
prozessualischen Prinzips, die sich hierin so recht ausspricht,

public.) quantae temeritatis sint publicanorum factiones, nemo est qui
nesciat; iccirco Praetor ad compescendam eorum audaciam hoc edic-
tum proposuit.
85) Der bekannte Fall bei Valer. Max. II. 8. 2 über den Anspruch auf
einen Triumph.
86) Liv. III. 56, 57.
87) Val. Max. VI. 1. 10.
88) Keller Civilprozeß §. 26 und die dort citirten Semestria desselben.

I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28.
Für die jetzige Periode und für Rom und Italien werden wir
dies nicht annehmen dürfen, jedenfalls kann dadurch das In-
tereſſe der Einrichtung, um die es ſich hier handelt, die recht-
liche Unterordnung eines großen Theils des Steuerweſens un-
ter die Juſtiz nicht vermindert werden.

Eine andere für den Geſichtspunkt, den wir hier verfolgen,
höchſt charakteriſtiſche Erſcheinung iſt die Vorliebe der Römer,
Streitigkeiten, die an und für ſich gar keine civilrechtliche Be-
deutung hatten, auf dem Wege des Civilprozeſſes zur
Entſcheidung zu bringen. Die sponsio praejudicialis, die pro-
zeſſualiſche Wette, gab hierfür eine Form von unbegränzter
Weite; das Anerbieten einer ſolchen Sponſion brauchte aller-
dings nicht angenommen zu werden, enthielt aber doch eine
Art von moraliſchem Zwang. Wir finden nun nicht bloß, daß
Privatperſonen ſich dieſes Mittels bedienten, ſondern auch Be-
amte unter ſich,85) Beamte gegen Privatperſonen86) und umge-
kehrt letztere gegen jene, um durch gerichtliche Erhärtung irgend
eines vorgeſchützten Entſchuldigungsgrundes den Lauf einer
gegen ſie verhängten Maßregel zu ſiſtiren.87) So diente dies
Mittel namentlich auch dazu, um den Grund oder Ungrund ge-
machter Beſchuldigungen zu conſtatiren, Jemanden auch ohne
oder noch vor dem judicium publicum eines Verbrechens zu
überführen, ſtaatsrechtliche Streitigkeiten zur Entſcheidung zu
bringen u. ſ. w.88)

Die Neigung der Römer für die Ausdehnung des civil-
prozeſſualiſchen Prinzips, die ſich hierin ſo recht ausſpricht,

public.) quantae temeritatis sint publicanorum factiones, nemo est qui
nesciat; iccirco Praetor ad compescendam eorum audaciam hoc edic-
tum proposuit.
85) Der bekannte Fall bei Valer. Max. II. 8. 2 über den Anſpruch auf
einen Triumph.
86) Liv. III. 56, 57.
87) Val. Max. VI. 1. 10.
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[85/0099] I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28. Für die jetzige Periode und für Rom und Italien werden wir dies nicht annehmen dürfen, jedenfalls kann dadurch das In- tereſſe der Einrichtung, um die es ſich hier handelt, die recht- liche Unterordnung eines großen Theils des Steuerweſens un- ter die Juſtiz nicht vermindert werden. Eine andere für den Geſichtspunkt, den wir hier verfolgen, höchſt charakteriſtiſche Erſcheinung iſt die Vorliebe der Römer, Streitigkeiten, die an und für ſich gar keine civilrechtliche Be- deutung hatten, auf dem Wege des Civilprozeſſes zur Entſcheidung zu bringen. Die sponsio praejudicialis, die pro- zeſſualiſche Wette, gab hierfür eine Form von unbegränzter Weite; das Anerbieten einer ſolchen Sponſion brauchte aller- dings nicht angenommen zu werden, enthielt aber doch eine Art von moraliſchem Zwang. Wir finden nun nicht bloß, daß Privatperſonen ſich dieſes Mittels bedienten, ſondern auch Be- amte unter ſich, 85) Beamte gegen Privatperſonen 86) und umge- kehrt letztere gegen jene, um durch gerichtliche Erhärtung irgend eines vorgeſchützten Entſchuldigungsgrundes den Lauf einer gegen ſie verhängten Maßregel zu ſiſtiren. 87) So diente dies Mittel namentlich auch dazu, um den Grund oder Ungrund ge- machter Beſchuldigungen zu conſtatiren, Jemanden auch ohne oder noch vor dem judicium publicum eines Verbrechens zu überführen, ſtaatsrechtliche Streitigkeiten zur Entſcheidung zu bringen u. ſ. w. 88) Die Neigung der Römer für die Ausdehnung des civil- prozeſſualiſchen Prinzips, die ſich hierin ſo recht ausſpricht, 84) 85) Der bekannte Fall bei Valer. Max. II. 8. 2 über den Anſpruch auf einen Triumph. 86) Liv. III. 56, 57. 87) Val. Max. VI. 1. 10. 88) Keller Civilprozeß §. 26 und die dort citirten Semestria deſſelben. 84) public.) quantae temeritatis sint publicanorum factiones, nemo est qui nesciat; iccirco Praetor ad compescendam eorum audaciam hoc edic- tum proposuit.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/99>, abgerufen am 28.03.2024.