Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
unserer juristischen Technik hat für den Unkundigen durchaus nichts Achtung Erweckendes, und vielleicht ist hierin der Grund zu suchen, daß die Rechtsphilosophie von demselben meines Wissens bisher kaum Notiz genommen hat. Und doch handelt es sich dabei um eine Erscheinung, die, eben weil sie im inner- sten Wesen des Rechts begründet ist, sich im Recht aller Völker wiederholt und stets wiederholen wird.
Um sie richtig zu würdigen, muß man die allgemeine, soll ich sagen culturhistorische oder philosophische mit der juristisch- praktischen Auffassung verbinden. Ersteres wird unter II, letz- teres soll hier geschehen. Wir werden zu dem Ende die in der Ueberschrift bezeichnete Frage von dem praktischen Werth des Formalismus zu erörtern haben. Dieselbe erfordert den Nach- weis der Nachtheile (1) und Vortheile (2) des Formalismus und die Bestimmung des Verhältnisses beider zu einander (3).
1. Die Nachtheile der Form.
Ich beginne mit ihnen, weil sie sich der unbefangenen Be- obachtung zuerst aufdrängen. Ungleich den Vortheilen bedürfen sie weder eines längeren Suchens, noch eines juristischen Au- ges, ein Umstand, der ihnen von vornherein ein Uebergewicht über jene gibt und die absprechenden Urtheile erklärt, die man so oft aus dem Munde der Laien über das Formenwesen im Recht vernehmen muß. Der erste Eindruck bestimmt sich immer nach dem, was ins Auge fällt. Wie müßte derselbe aber nicht ein verkehrter sein, wenn Licht und Schatten sich über den Gegen- stand in der Weise vertheilen, daß für den Beobachter die un- vortheilhafte Seite desselben beleuchtet, die vortheilhafte be- schattet ist! So verhält es sich aber mit dem unsrigen, und die abgeneigte Stimmung und das ungünstige Urtheil dessen, der sich hier durch den ersten Eindruck leiten läßt, wie es regelmäßig der Laie thut, ist daher nicht bloß durchaus erklärlich, sondern von seinem Standpunkt aus völlig gerechtfertigt, nothwendig. Die üblen Eigenschaften des Formalismus werden ihm in
Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
unſerer juriſtiſchen Technik hat für den Unkundigen durchaus nichts Achtung Erweckendes, und vielleicht iſt hierin der Grund zu ſuchen, daß die Rechtsphiloſophie von demſelben meines Wiſſens bisher kaum Notiz genommen hat. Und doch handelt es ſich dabei um eine Erſcheinung, die, eben weil ſie im inner- ſten Weſen des Rechts begründet iſt, ſich im Recht aller Völker wiederholt und ſtets wiederholen wird.
Um ſie richtig zu würdigen, muß man die allgemeine, ſoll ich ſagen culturhiſtoriſche oder philoſophiſche mit der juriſtiſch- praktiſchen Auffaſſung verbinden. Erſteres wird unter II, letz- teres ſoll hier geſchehen. Wir werden zu dem Ende die in der Ueberſchrift bezeichnete Frage von dem praktiſchen Werth des Formalismus zu erörtern haben. Dieſelbe erfordert den Nach- weis der Nachtheile (1) und Vortheile (2) des Formalismus und die Beſtimmung des Verhältniſſes beider zu einander (3).
1. Die Nachtheile der Form.
Ich beginne mit ihnen, weil ſie ſich der unbefangenen Be- obachtung zuerſt aufdrängen. Ungleich den Vortheilen bedürfen ſie weder eines längeren Suchens, noch eines juriſtiſchen Au- ges, ein Umſtand, der ihnen von vornherein ein Uebergewicht über jene gibt und die abſprechenden Urtheile erklärt, die man ſo oft aus dem Munde der Laien über das Formenweſen im Recht vernehmen muß. Der erſte Eindruck beſtimmt ſich immer nach dem, was ins Auge fällt. Wie müßte derſelbe aber nicht ein verkehrter ſein, wenn Licht und Schatten ſich über den Gegen- ſtand in der Weiſe vertheilen, daß für den Beobachter die un- vortheilhafte Seite deſſelben beleuchtet, die vortheilhafte be- ſchattet iſt! So verhält es ſich aber mit dem unſrigen, und die abgeneigte Stimmung und das ungünſtige Urtheil deſſen, der ſich hier durch den erſten Eindruck leiten läßt, wie es regelmäßig der Laie thut, iſt daher nicht bloß durchaus erklärlich, ſondern von ſeinem Standpunkt aus völlig gerechtfertigt, nothwendig. Die üblen Eigenſchaften des Formalismus werden ihm in
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Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
unſerer juriſtiſchen Technik hat für den Unkundigen durchaus
nichts Achtung Erweckendes, und vielleicht iſt hierin der Grund
zu ſuchen, daß die Rechtsphiloſophie von demſelben meines
Wiſſens bisher kaum Notiz genommen hat. Und doch handelt
es ſich dabei um eine Erſcheinung, die, eben weil ſie im inner-
ſten Weſen des Rechts begründet iſt, ſich im Recht aller Völker
wiederholt und ſtets wiederholen wird.
Um ſie richtig zu würdigen, muß man die allgemeine, ſoll
ich ſagen culturhiſtoriſche oder philoſophiſche mit der juriſtiſch-
praktiſchen Auffaſſung verbinden. Erſteres wird unter II, letz-
teres ſoll hier geſchehen. Wir werden zu dem Ende die in der
Ueberſchrift bezeichnete Frage von dem praktiſchen Werth des
Formalismus zu erörtern haben. Dieſelbe erfordert den Nach-
weis der Nachtheile (1) und Vortheile (2) des Formalismus
und die Beſtimmung des Verhältniſſes beider zu einander (3).
1. Die Nachtheile der Form.
Ich beginne mit ihnen, weil ſie ſich der unbefangenen Be-
obachtung zuerſt aufdrängen. Ungleich den Vortheilen bedürfen
ſie weder eines längeren Suchens, noch eines juriſtiſchen Au-
ges, ein Umſtand, der ihnen von vornherein ein Uebergewicht
über jene gibt und die abſprechenden Urtheile erklärt, die man
ſo oft aus dem Munde der Laien über das Formenweſen im
Recht vernehmen muß. Der erſte Eindruck beſtimmt ſich immer
nach dem, was ins Auge fällt. Wie müßte derſelbe aber nicht ein
verkehrter ſein, wenn Licht und Schatten ſich über den Gegen-
ſtand in der Weiſe vertheilen, daß für den Beobachter die un-
vortheilhafte Seite deſſelben beleuchtet, die vortheilhafte be-
ſchattet iſt! So verhält es ſich aber mit dem unſrigen, und die
abgeneigte Stimmung und das ungünſtige Urtheil deſſen, der
ſich hier durch den erſten Eindruck leiten läßt, wie es regelmäßig
der Laie thut, iſt daher nicht bloß durchaus erklärlich, ſondern
von ſeinem Standpunkt aus völlig gerechtfertigt, nothwendig.
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 505. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/211>, abgerufen am 30.11.2023.
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