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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Juristische Kunst -- frühes Alter derselben. §. 48.
dem die Rechtsbegriffe noch ohne Zuthun des Menschen am
Baum der Erkenntniß gewachsen seien, von dem er nur nöthig
gehabt hätte sie zu pflücken, oder von dem sie ihm gar von selbst
in den Schooß gefallen seien. Die positive Behauptung, die ich
dieser Lehre entgegenstelle, ist die: daß die Geschichte des Rechts
mit einem eisernen Zeitalter begonnen hat, mit dem harten
Ringen und Arbeiten des menschlichen Verstandes, daß Absicht,
Reflexion, Bewußtsein, Berechnung bereits bei der Bildung des
Rechts thätig gewesen, daß die juristische Kunst schon an
der Wiege desselben gestanden hat
.

So wenig uns heutzutage die Begriffe von selbst zufallen,
sondern mit Mühe und Anstrengung gewonnen werden müssen,
so und nicht anders ist es auch in jener historischen Epoche der
Fall gewesen, wo die Grundbegriffe des Rechts sich gebildet ha-
ben, und die Meinung, als ob die Völker in ihrer Kindheit den
Begriff des Eigenthums, der Obligation u. s. w. nicht nöthig
gehabt hätten zu suchen und auszubilden, sondern ihn fertig
vorgefunden hätten, ist um nichts besser, als daß sie ihre
Häuser, Pflugschaaren u. s. w. aus den Händen der Natur er-
halten hätten.

Wie sie wegen letzterer Jahrhunderte lang haben denken, arbei-
ten und in Versuchen sich abmühen müssen, eben so und in noch
viel höherem Grade wegen jener, und in Rom wenigstens muß
eine lange Zeit des Tastens und Suchens, des Schwankens und
der Unsicherheit vorhergegangen sein, bevor diese Begriffe jene
knappen, festen Formen angenommen haben, die sie schon bei
ihrem ersten historischen Auftreten an sich tragen.

Einer je längern Prüfung ich diese Begriffe unterworfen
habe, um so festeren Fuß hat die Ueberzeugung bei mir gefaßt,
daß sie sg. Kunstproducte sind, und zwar Producte einer
Kunst, die uns die höchste Bewunderung abnöthigen muß.
Wer die Jurisprudenz mit der juristischen Schriftstellerei iden-
tificirt und sie daher von dem ersten Buch an, das da geschrie-
ben ist, datirt, für den freilich fällt diese Kunst weit zurück vor

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Juriſtiſche Kunſt — frühes Alter derſelben. §. 48.
dem die Rechtsbegriffe noch ohne Zuthun des Menſchen am
Baum der Erkenntniß gewachſen ſeien, von dem er nur nöthig
gehabt hätte ſie zu pflücken, oder von dem ſie ihm gar von ſelbſt
in den Schooß gefallen ſeien. Die poſitive Behauptung, die ich
dieſer Lehre entgegenſtelle, iſt die: daß die Geſchichte des Rechts
mit einem eiſernen Zeitalter begonnen hat, mit dem harten
Ringen und Arbeiten des menſchlichen Verſtandes, daß Abſicht,
Reflexion, Bewußtſein, Berechnung bereits bei der Bildung des
Rechts thätig geweſen, daß die juriſtiſche Kunſt ſchon an
der Wiege deſſelben geſtanden hat
.

So wenig uns heutzutage die Begriffe von ſelbſt zufallen,
ſondern mit Mühe und Anſtrengung gewonnen werden müſſen,
ſo und nicht anders iſt es auch in jener hiſtoriſchen Epoche der
Fall geweſen, wo die Grundbegriffe des Rechts ſich gebildet ha-
ben, und die Meinung, als ob die Völker in ihrer Kindheit den
Begriff des Eigenthums, der Obligation u. ſ. w. nicht nöthig
gehabt hätten zu ſuchen und auszubilden, ſondern ihn fertig
vorgefunden hätten, iſt um nichts beſſer, als daß ſie ihre
Häuſer, Pflugſchaaren u. ſ. w. aus den Händen der Natur er-
halten hätten.

Wie ſie wegen letzterer Jahrhunderte lang haben denken, arbei-
ten und in Verſuchen ſich abmühen müſſen, eben ſo und in noch
viel höherem Grade wegen jener, und in Rom wenigſtens muß
eine lange Zeit des Taſtens und Suchens, des Schwankens und
der Unſicherheit vorhergegangen ſein, bevor dieſe Begriffe jene
knappen, feſten Formen angenommen haben, die ſie ſchon bei
ihrem erſten hiſtoriſchen Auftreten an ſich tragen.

Einer je längern Prüfung ich dieſe Begriffe unterworfen
habe, um ſo feſteren Fuß hat die Ueberzeugung bei mir gefaßt,
daß ſie ſg. Kunſtproducte ſind, und zwar Producte einer
Kunſt, die uns die höchſte Bewunderung abnöthigen muß.
Wer die Jurisprudenz mit der juriſtiſchen Schriftſtellerei iden-
tificirt und ſie daher von dem erſten Buch an, das da geſchrie-
ben iſt, datirt, für den freilich fällt dieſe Kunſt weit zurück vor

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[3/0019] Juriſtiſche Kunſt — frühes Alter derſelben. §. 48. dem die Rechtsbegriffe noch ohne Zuthun des Menſchen am Baum der Erkenntniß gewachſen ſeien, von dem er nur nöthig gehabt hätte ſie zu pflücken, oder von dem ſie ihm gar von ſelbſt in den Schooß gefallen ſeien. Die poſitive Behauptung, die ich dieſer Lehre entgegenſtelle, iſt die: daß die Geſchichte des Rechts mit einem eiſernen Zeitalter begonnen hat, mit dem harten Ringen und Arbeiten des menſchlichen Verſtandes, daß Abſicht, Reflexion, Bewußtſein, Berechnung bereits bei der Bildung des Rechts thätig geweſen, daß die juriſtiſche Kunſt ſchon an der Wiege deſſelben geſtanden hat. So wenig uns heutzutage die Begriffe von ſelbſt zufallen, ſondern mit Mühe und Anſtrengung gewonnen werden müſſen, ſo und nicht anders iſt es auch in jener hiſtoriſchen Epoche der Fall geweſen, wo die Grundbegriffe des Rechts ſich gebildet ha- ben, und die Meinung, als ob die Völker in ihrer Kindheit den Begriff des Eigenthums, der Obligation u. ſ. w. nicht nöthig gehabt hätten zu ſuchen und auszubilden, ſondern ihn fertig vorgefunden hätten, iſt um nichts beſſer, als daß ſie ihre Häuſer, Pflugſchaaren u. ſ. w. aus den Händen der Natur er- halten hätten. Wie ſie wegen letzterer Jahrhunderte lang haben denken, arbei- ten und in Verſuchen ſich abmühen müſſen, eben ſo und in noch viel höherem Grade wegen jener, und in Rom wenigſtens muß eine lange Zeit des Taſtens und Suchens, des Schwankens und der Unſicherheit vorhergegangen ſein, bevor dieſe Begriffe jene knappen, feſten Formen angenommen haben, die ſie ſchon bei ihrem erſten hiſtoriſchen Auftreten an ſich tragen. Einer je längern Prüfung ich dieſe Begriffe unterworfen habe, um ſo feſteren Fuß hat die Ueberzeugung bei mir gefaßt, daß ſie ſg. Kunſtproducte ſind, und zwar Producte einer Kunſt, die uns die höchſte Bewunderung abnöthigen muß. Wer die Jurisprudenz mit der juriſtiſchen Schriftſtellerei iden- tificirt und ſie daher von dem erſten Buch an, das da geſchrie- ben iſt, datirt, für den freilich fällt dieſe Kunſt weit zurück vor 1*

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/19>, abgerufen am 24.04.2024.