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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Bestreitung der Bedürfnisse auf einfachem Wege. §. 56.
indem ich meine Beispiele nicht bloß dem ältern, sondern auch
dem neuern Recht entlehne. Ueber die Benutzung und Gruppirung
des historischen Materials entscheidet in meinen Augen nicht der
Umstand ob das Einzelne, sondern ob das Princip nach
der einen oder andern Epoche gravitirt. Daß aber die hier zu
schildernde Kunst der juristischen Verwendung ihre richtige Stelle
in der Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts nur im alten
System findet, indem sie ihm nicht bloß ihrem Ursprung, sondern
auch ihrer Blüthezeit nach angehört, darüber wird der Verfolg
der Darstellung hoffentlich keine Zweifel übrig lassen.

Nur ein einziger Gesichtspunkt hat sich mir dargeboten, um
die Masse des Materials wenigstens in zwei größere Gruppen
zu vertheilen. Es ist der oben angedeutete der Einfachheit oder
Künstlichkeit der aufgebotenen Mittel. Aber auch er hat nur
einen relativen Werth, indem der Maßstab darüber: was künst-
lich, was einfach sei, ein ziemlich schwankender ist, ein Uebelstand,
der übrigens hier, wo es sich nicht um begriffliche Scheidung,
sondern lediglich um die Gruppirung des Stoffs handelt, gar
nicht ins Gewicht fällt. Einfach nenne ich diejenige Verwen-
dung eines Rechtssatzes oder Rechtsinstituts, die dieselben einem
Zwecke dienstbar macht, für den sie zwar ihrer Intention nach
nicht bestimmt sind, der ihnen aber doch nicht widerstrebt.
Künstliche Mittel nenne ich diejenigen, bei denen die Rechts-
sätze und Rechtsinstitute Dienste leisten sollen, die über ihr natür-
liches Leistungsvermögen, ihren Sinn und Zweck hinausgehen,
bei denen ihnen also zu dem Ende Gewalt angethan werden
muß. Die fiduciarische Eigenthumsübertragung an den Stell-
vertreter (s. unten Note 327) als Surrogat der dem ältern
Recht fehlenden directen Stellvertretung war ein einfaches Mittel,
denn dem Begriff der Eigenthumsübertragung geschah, indem
sie einem solchen Zweck dienen mußte, keine Gewalt. Die
Verwendung der Ehe dagegen lediglich zu dem Zweck, der Frau
andere Tutoren oder die Befreiung von den sacris zu ver-
schaffen (§. 58), war ein künstliches Mittel, denn eine der-

Beſtreitung der Bedürfniſſe auf einfachem Wege. §. 56.
indem ich meine Beiſpiele nicht bloß dem ältern, ſondern auch
dem neuern Recht entlehne. Ueber die Benutzung und Gruppirung
des hiſtoriſchen Materials entſcheidet in meinen Augen nicht der
Umſtand ob das Einzelne, ſondern ob das Princip nach
der einen oder andern Epoche gravitirt. Daß aber die hier zu
ſchildernde Kunſt der juriſtiſchen Verwendung ihre richtige Stelle
in der Entwicklungsgeſchichte des römiſchen Rechts nur im alten
Syſtem findet, indem ſie ihm nicht bloß ihrem Urſprung, ſondern
auch ihrer Blüthezeit nach angehört, darüber wird der Verfolg
der Darſtellung hoffentlich keine Zweifel übrig laſſen.

Nur ein einziger Geſichtspunkt hat ſich mir dargeboten, um
die Maſſe des Materials wenigſtens in zwei größere Gruppen
zu vertheilen. Es iſt der oben angedeutete der Einfachheit oder
Künſtlichkeit der aufgebotenen Mittel. Aber auch er hat nur
einen relativen Werth, indem der Maßſtab darüber: was künſt-
lich, was einfach ſei, ein ziemlich ſchwankender iſt, ein Uebelſtand,
der übrigens hier, wo es ſich nicht um begriffliche Scheidung,
ſondern lediglich um die Gruppirung des Stoffs handelt, gar
nicht ins Gewicht fällt. Einfach nenne ich diejenige Verwen-
dung eines Rechtsſatzes oder Rechtsinſtituts, die dieſelben einem
Zwecke dienſtbar macht, für den ſie zwar ihrer Intention nach
nicht beſtimmt ſind, der ihnen aber doch nicht widerſtrebt.
Künſtliche Mittel nenne ich diejenigen, bei denen die Rechts-
ſätze und Rechtsinſtitute Dienſte leiſten ſollen, die über ihr natür-
liches Leiſtungsvermögen, ihren Sinn und Zweck hinausgehen,
bei denen ihnen alſo zu dem Ende Gewalt angethan werden
muß. Die fiduciariſche Eigenthumsübertragung an den Stell-
vertreter (ſ. unten Note 327) als Surrogat der dem ältern
Recht fehlenden directen Stellvertretung war ein einfaches Mittel,
denn dem Begriff der Eigenthumsübertragung geſchah, indem
ſie einem ſolchen Zweck dienen mußte, keine Gewalt. Die
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[233/0249] Beſtreitung der Bedürfniſſe auf einfachem Wege. §. 56. indem ich meine Beiſpiele nicht bloß dem ältern, ſondern auch dem neuern Recht entlehne. Ueber die Benutzung und Gruppirung des hiſtoriſchen Materials entſcheidet in meinen Augen nicht der Umſtand ob das Einzelne, ſondern ob das Princip nach der einen oder andern Epoche gravitirt. Daß aber die hier zu ſchildernde Kunſt der juriſtiſchen Verwendung ihre richtige Stelle in der Entwicklungsgeſchichte des römiſchen Rechts nur im alten Syſtem findet, indem ſie ihm nicht bloß ihrem Urſprung, ſondern auch ihrer Blüthezeit nach angehört, darüber wird der Verfolg der Darſtellung hoffentlich keine Zweifel übrig laſſen. Nur ein einziger Geſichtspunkt hat ſich mir dargeboten, um die Maſſe des Materials wenigſtens in zwei größere Gruppen zu vertheilen. Es iſt der oben angedeutete der Einfachheit oder Künſtlichkeit der aufgebotenen Mittel. Aber auch er hat nur einen relativen Werth, indem der Maßſtab darüber: was künſt- lich, was einfach ſei, ein ziemlich ſchwankender iſt, ein Uebelſtand, der übrigens hier, wo es ſich nicht um begriffliche Scheidung, ſondern lediglich um die Gruppirung des Stoffs handelt, gar nicht ins Gewicht fällt. Einfach nenne ich diejenige Verwen- dung eines Rechtsſatzes oder Rechtsinſtituts, die dieſelben einem Zwecke dienſtbar macht, für den ſie zwar ihrer Intention nach nicht beſtimmt ſind, der ihnen aber doch nicht widerſtrebt. Künſtliche Mittel nenne ich diejenigen, bei denen die Rechts- ſätze und Rechtsinſtitute Dienſte leiſten ſollen, die über ihr natür- liches Leiſtungsvermögen, ihren Sinn und Zweck hinausgehen, bei denen ihnen alſo zu dem Ende Gewalt angethan werden muß. Die fiduciariſche Eigenthumsübertragung an den Stell- vertreter (ſ. unten Note 327) als Surrogat der dem ältern Recht fehlenden directen Stellvertretung war ein einfaches Mittel, denn dem Begriff der Eigenthumsübertragung geſchah, indem ſie einem ſolchen Zweck dienen mußte, keine Gewalt. Die Verwendung der Ehe dagegen lediglich zu dem Zweck, der Frau andere Tutoren oder die Befreiung von den sacris zu ver- ſchaffen (§. 58), war ein künſtliches Mittel, denn eine der-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/249>, abgerufen am 25.04.2024.