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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Die Analytik der älteste Zweig der jur. Kunst. §. 49.
der entwickelten Rechtswissenschaft. Was für letztere nur ein
einzelner und nicht gerade sehr hervorstechender Zweig der Be-
rufsarbeit ist, bildet dort den einzigen. Eben aus diesem
Grunde ist es mir richtig erschienen, die Darstellung der analy-
tischen Methode für den ganzen Verlauf meines Werks auf die
gegenwärtige Stelle zu verweisen. Denn hier, wo sie, so zu
sagen, aus dem Boden hervorschießt, wird sie nicht bloß zuerst
in der Geschichte sichtbar, sondern sie treibt auch in dieser
Nähe am Boden die meisten Früchte und Triebe; der ungleich
dürftigern Früchte wegen, die sie noch in der Krone d. h. im
dritten System trägt, speciell auf sie zurückzukommen, wäre ohne
alles Interesse; soweit dieselben für uns brauchbar sind, wollen
wir sie hier mit benutzen. Nur in einer Beziehung werde ich
im dritten System der analytischen Methode gedenken, nämlich
was die Veränderung anbetrifft, die in der äußern Form mit ihr
vorgegangen ist.

Für unser obiges Urtheil über den analytischen Charakter
der alten Kunst ist es weder nöthig noch möglich, Aeußerungen
römischer Juristen in Bezug zu nehmen; das ältere Recht setzt uns
in Stand, uns unser Urtheil selber zu bilden. Dagegen gewährt
uns Cicero in dem als Motto über diesem Paragraphen benutz-
ten Ausspruch eine beachtenswerthe Bestätigung desselben. Die-
ser Ausspruch, insoweit er einen Tadel gegen die Jurispru-
denz begründen sollte, nur ein Beweis für die juristische Urtheils-
losigkeit seines Urhebers, enthält doch als faktische Wahrneh-
mung, nämlich als Zeugniß über den Eindruck, den die juristi-
sche Literatur auf Cicero gemacht hatte, eins der interessantesten
Urtheile über die alte Jurisprudenz, das unsere heutige Rechts-
historie sich hätte um keinen Preis entgehen lassen dürfen und
das ich eben, um es einmal zu Ehren zu bringen, als Motto
für diesen ganzen Abschnitt benutzt habe. "Was auf einem Be-
griff beruht, zerspalten die Juristen in unzählige Stücke." Der
Vorwurf war zwar zunächst gegen die Zeitgenossen Cicero's ge-
richtet, allein er glitt von ihnen um einige Jahrhunderte zurück

Die Analytik der älteſte Zweig der jur. Kunſt. §. 49.
der entwickelten Rechtswiſſenſchaft. Was für letztere nur ein
einzelner und nicht gerade ſehr hervorſtechender Zweig der Be-
rufsarbeit iſt, bildet dort den einzigen. Eben aus dieſem
Grunde iſt es mir richtig erſchienen, die Darſtellung der analy-
tiſchen Methode für den ganzen Verlauf meines Werks auf die
gegenwärtige Stelle zu verweiſen. Denn hier, wo ſie, ſo zu
ſagen, aus dem Boden hervorſchießt, wird ſie nicht bloß zuerſt
in der Geſchichte ſichtbar, ſondern ſie treibt auch in dieſer
Nähe am Boden die meiſten Früchte und Triebe; der ungleich
dürftigern Früchte wegen, die ſie noch in der Krone d. h. im
dritten Syſtem trägt, ſpeciell auf ſie zurückzukommen, wäre ohne
alles Intereſſe; ſoweit dieſelben für uns brauchbar ſind, wollen
wir ſie hier mit benutzen. Nur in einer Beziehung werde ich
im dritten Syſtem der analytiſchen Methode gedenken, nämlich
was die Veränderung anbetrifft, die in der äußern Form mit ihr
vorgegangen iſt.

Für unſer obiges Urtheil über den analytiſchen Charakter
der alten Kunſt iſt es weder nöthig noch möglich, Aeußerungen
römiſcher Juriſten in Bezug zu nehmen; das ältere Recht ſetzt uns
in Stand, uns unſer Urtheil ſelber zu bilden. Dagegen gewährt
uns Cicero in dem als Motto über dieſem Paragraphen benutz-
ten Ausſpruch eine beachtenswerthe Beſtätigung deſſelben. Die-
ſer Ausſpruch, inſoweit er einen Tadel gegen die Jurispru-
denz begründen ſollte, nur ein Beweis für die juriſtiſche Urtheils-
loſigkeit ſeines Urhebers, enthält doch als faktiſche Wahrneh-
mung, nämlich als Zeugniß über den Eindruck, den die juriſti-
ſche Literatur auf Cicero gemacht hatte, eins der intereſſanteſten
Urtheile über die alte Jurisprudenz, das unſere heutige Rechts-
hiſtorie ſich hätte um keinen Preis entgehen laſſen dürfen und
das ich eben, um es einmal zu Ehren zu bringen, als Motto
für dieſen ganzen Abſchnitt benutzt habe. „Was auf einem Be-
griff beruht, zerſpalten die Juriſten in unzählige Stücke.“ Der
Vorwurf war zwar zunächſt gegen die Zeitgenoſſen Cicero’s ge-
richtet, allein er glitt von ihnen um einige Jahrhunderte zurück

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[13/0029] Die Analytik der älteſte Zweig der jur. Kunſt. §. 49. der entwickelten Rechtswiſſenſchaft. Was für letztere nur ein einzelner und nicht gerade ſehr hervorſtechender Zweig der Be- rufsarbeit iſt, bildet dort den einzigen. Eben aus dieſem Grunde iſt es mir richtig erſchienen, die Darſtellung der analy- tiſchen Methode für den ganzen Verlauf meines Werks auf die gegenwärtige Stelle zu verweiſen. Denn hier, wo ſie, ſo zu ſagen, aus dem Boden hervorſchießt, wird ſie nicht bloß zuerſt in der Geſchichte ſichtbar, ſondern ſie treibt auch in dieſer Nähe am Boden die meiſten Früchte und Triebe; der ungleich dürftigern Früchte wegen, die ſie noch in der Krone d. h. im dritten Syſtem trägt, ſpeciell auf ſie zurückzukommen, wäre ohne alles Intereſſe; ſoweit dieſelben für uns brauchbar ſind, wollen wir ſie hier mit benutzen. Nur in einer Beziehung werde ich im dritten Syſtem der analytiſchen Methode gedenken, nämlich was die Veränderung anbetrifft, die in der äußern Form mit ihr vorgegangen iſt. Für unſer obiges Urtheil über den analytiſchen Charakter der alten Kunſt iſt es weder nöthig noch möglich, Aeußerungen römiſcher Juriſten in Bezug zu nehmen; das ältere Recht ſetzt uns in Stand, uns unſer Urtheil ſelber zu bilden. Dagegen gewährt uns Cicero in dem als Motto über dieſem Paragraphen benutz- ten Ausſpruch eine beachtenswerthe Beſtätigung deſſelben. Die- ſer Ausſpruch, inſoweit er einen Tadel gegen die Jurispru- denz begründen ſollte, nur ein Beweis für die juriſtiſche Urtheils- loſigkeit ſeines Urhebers, enthält doch als faktiſche Wahrneh- mung, nämlich als Zeugniß über den Eindruck, den die juriſti- ſche Literatur auf Cicero gemacht hatte, eins der intereſſanteſten Urtheile über die alte Jurisprudenz, das unſere heutige Rechts- hiſtorie ſich hätte um keinen Preis entgehen laſſen dürfen und das ich eben, um es einmal zu Ehren zu bringen, als Motto für dieſen ganzen Abſchnitt benutzt habe. „Was auf einem Be- griff beruht, zerſpalten die Juriſten in unzählige Stücke.“ Der Vorwurf war zwar zunächſt gegen die Zeitgenoſſen Cicero’s ge- richtet, allein er glitt von ihnen um einige Jahrhunderte zurück

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/29>, abgerufen am 29.03.2024.