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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
mel völlig aufgebe und statt deren eine andere wähle, die dem
Beklagten für die Verfolgung des von ihm in Anspruch genom-
menen Rechts den nöthigen Spielraum verstattet. Die Klage
kömmt hier der Vertheidigung nicht mehr bloß auf halbem Wege
entgegen, sondern sie läßt sich ganz zu ihr hinab.

Dieser Klagezwang ist ein nothwendiges Complement des
alten Processes, für den Beklagten ebenso unentbehrlich, wie für
den Kläger in gewissen Fällen (S. 70--72) die Präjudicial-
klage; beide Einrichtungen geben den Partheien erst das nöthige
Maß der freien Bewegung zurück, das ihnen sonst durch die Enge
der Proceßformen entzogen sein würde.

Ueberzeugen wir uns davon an dem früher gesetzten Fall
eines Rechtsstreits zwischen Eigenthümer und Usufructuar. An-
genommen der Eigenthümer hätte einfach gegen letzteren die Vin-
dication angestellt, der Beklagte aber sich auf sein ihm vom Kläger
bestrittenes Recht berufen. Wäre hier dem Richter die gewöhn-
liche Frage im Vindicationsproceß gestellt worden: si paret rem
actoris esse,
so hätte er den Beklagten mit der Behauptung sei-
nes Nießbrauchs gar nicht hören dürfen, denn dieselbe enthält
keine Negation des Eigenthums, selbst nicht eine partielle:
"der Nießbrauch -- lautet die Regel -- ist kein Theil des Eigen-
thums". 92) Andererseits aber konnte man doch auch den Ein-
wand des Beklagten nicht in die Formel aufnehmen, denn Eigen-
thum und Nießbrauch sind ebenso irrationale Größen, und folglich
in derselben Formel ebenso unverträglich mit einander, wie Eigen-
thum und Forderung (Note 74). Man half sich hier in der
Weise, daß man eine Formel componirte, die gewissermaßen die
Mitte zwischen den Rechten beider Partheien hielt, beiden sowohl
die Behauptung des eignen als die Bestreitung des gegnerischen

92) L. 25 pr. de V. S. (50. 16). Recte dicimus eum fundum totum
nostrum esse, etiam cum ususfructus alienus est, quia ususfructus
non dominii
pars, sed servitutis sit ut via et iter, nec falso dici to-
tum meum esse
cujus non potest ulla pars dici alterius esse.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
mel völlig aufgebe und ſtatt deren eine andere wähle, die dem
Beklagten für die Verfolgung des von ihm in Anſpruch genom-
menen Rechts den nöthigen Spielraum verſtattet. Die Klage
kömmt hier der Vertheidigung nicht mehr bloß auf halbem Wege
entgegen, ſondern ſie läßt ſich ganz zu ihr hinab.

Dieſer Klagezwang iſt ein nothwendiges Complement des
alten Proceſſes, für den Beklagten ebenſo unentbehrlich, wie für
den Kläger in gewiſſen Fällen (S. 70—72) die Präjudicial-
klage; beide Einrichtungen geben den Partheien erſt das nöthige
Maß der freien Bewegung zurück, das ihnen ſonſt durch die Enge
der Proceßformen entzogen ſein würde.

Ueberzeugen wir uns davon an dem früher geſetzten Fall
eines Rechtsſtreits zwiſchen Eigenthümer und Uſufructuar. An-
genommen der Eigenthümer hätte einfach gegen letzteren die Vin-
dication angeſtellt, der Beklagte aber ſich auf ſein ihm vom Kläger
beſtrittenes Recht berufen. Wäre hier dem Richter die gewöhn-
liche Frage im Vindicationsproceß geſtellt worden: si paret rem
actoris esse,
ſo hätte er den Beklagten mit der Behauptung ſei-
nes Nießbrauchs gar nicht hören dürfen, denn dieſelbe enthält
keine Negation des Eigenthums, ſelbſt nicht eine partielle:
„der Nießbrauch — lautet die Regel — iſt kein Theil des Eigen-
thums“. 92) Andererſeits aber konnte man doch auch den Ein-
wand des Beklagten nicht in die Formel aufnehmen, denn Eigen-
thum und Nießbrauch ſind ebenſo irrationale Größen, und folglich
in derſelben Formel ebenſo unverträglich mit einander, wie Eigen-
thum und Forderung (Note 74). Man half ſich hier in der
Weiſe, daß man eine Formel componirte, die gewiſſermaßen die
Mitte zwiſchen den Rechten beider Partheien hielt, beiden ſowohl
die Behauptung des eignen als die Beſtreitung des gegneriſchen

92) L. 25 pr. de V. S. (50. 16). Recte dicimus eum fundum totum
nostrum esse, etiam cum ususfructus alienus est, quia ususfructus
non dominii
pars, sed servitutis sit ut via et iter, nec falso dici to-
tum meum esse
cujus non potest ulla pars dici alterius esse.
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[82/0098] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik. mel völlig aufgebe und ſtatt deren eine andere wähle, die dem Beklagten für die Verfolgung des von ihm in Anſpruch genom- menen Rechts den nöthigen Spielraum verſtattet. Die Klage kömmt hier der Vertheidigung nicht mehr bloß auf halbem Wege entgegen, ſondern ſie läßt ſich ganz zu ihr hinab. Dieſer Klagezwang iſt ein nothwendiges Complement des alten Proceſſes, für den Beklagten ebenſo unentbehrlich, wie für den Kläger in gewiſſen Fällen (S. 70—72) die Präjudicial- klage; beide Einrichtungen geben den Partheien erſt das nöthige Maß der freien Bewegung zurück, das ihnen ſonſt durch die Enge der Proceßformen entzogen ſein würde. Ueberzeugen wir uns davon an dem früher geſetzten Fall eines Rechtsſtreits zwiſchen Eigenthümer und Uſufructuar. An- genommen der Eigenthümer hätte einfach gegen letzteren die Vin- dication angeſtellt, der Beklagte aber ſich auf ſein ihm vom Kläger beſtrittenes Recht berufen. Wäre hier dem Richter die gewöhn- liche Frage im Vindicationsproceß geſtellt worden: si paret rem actoris esse, ſo hätte er den Beklagten mit der Behauptung ſei- nes Nießbrauchs gar nicht hören dürfen, denn dieſelbe enthält keine Negation des Eigenthums, ſelbſt nicht eine partielle: „der Nießbrauch — lautet die Regel — iſt kein Theil des Eigen- thums“. 92) Andererſeits aber konnte man doch auch den Ein- wand des Beklagten nicht in die Formel aufnehmen, denn Eigen- thum und Nießbrauch ſind ebenſo irrationale Größen, und folglich in derſelben Formel ebenſo unverträglich mit einander, wie Eigen- thum und Forderung (Note 74). Man half ſich hier in der Weiſe, daß man eine Formel componirte, die gewiſſermaßen die Mitte zwiſchen den Rechten beider Partheien hielt, beiden ſowohl die Behauptung des eignen als die Beſtreitung des gegneriſchen 92) L. 25 pr. de V. S. (50. 16). Recte dicimus eum fundum totum nostrum esse, etiam cum ususfructus alienus est, quia ususfructus non dominii pars, sed servitutis sit ut via et iter, nec falso dici to- tum meum esse cujus non potest ulla pars dici alterius esse.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/98>, abgerufen am 23.04.2024.