und waren kalt; das war aber auch kein Wunder, denn er trug nun eine Perücke mit einem Haarbeutel, ehemals war sie blos rund und nur ein wenig gepudert gewesen, dazu hätte er auch Hand- und Halskrausen am Hemd, und war also ein vornehmer, weltförmiger Mann geworden. Hin und wieder versuchte man's, mit ihm auf den alten Schlag von der Re- ligion zu reden, dann aber erklärte er sich freundlich und ernst- lich: er habe nun lange genug von Pflichten ge- schwatzt, jetzt wolle er schweigen und sie aus- üben; und da er vollends keiner ihrer Versammlungen mehr beiwohnte, so hielten sie ihn für einen Abtrünnigen und zogen nun bei allen Gelegenheiten in einem lieblosen und bedauern- den Ton über ihn los. Wie sehr ist diese Maxime dieser sonst so guten und braven Leute zu bejammern! -- ich gestehe gerne, daß die rechtschaffensten Leute und besten Christen unter ihnen sind, aber sie verderben alles Gute wieder durch ihren Hang zum Richten; wer nicht mit ihnen gerad Eines Sinnes ist, mit ihnen von Religion tändelt und empfindelt, der gilt nichts, und wird für unwiedergeboren gehalten; sie beden- ken nicht, daß das Maul-Christenthum gar keinen Werth hat, sondern daß man sein Licht durch gute Handlungen müsse leuchten lassen. Mit Einem Wort: Stilling wurde von seinen alten Freunden nicht allein ganz verlassen, sondern so- gar verläumdet; und als Arzt brauchten sie ihn fast gar nicht. Die Menge der reichen Kaufleute empfingen ihn blos höflich, als einen Mann, der kein Vermögen hat, und dem man gleich auf den ersten Blick den tiefen Eindruck beibrin- gen muß: "hab' nur ja niemals das Herz, Geld, Hülfe und Unterstützung von mir zu begehren; ich bezahle deine Mühe nach Verdienst, und weiter nichts." Doch fand er auch viele edle Männer, wahre Menschenseelen, deren Blick edle Ge- sinnungen verrieth."
Das alles machte Stilling doch das Herz schwer: bis dahin war er entweder an einen völlig besorgten Tisch gegan- gen, oder er hatte bezahlen können; die Welt um ihn her hatte wenig Bezug auf ihn gehabt, und bei allen seinen Lei- den war sein Wirkungskreis unbedeutend gewesen; aber jetzt
und waren kalt; das war aber auch kein Wunder, denn er trug nun eine Peruͤcke mit einem Haarbeutel, ehemals war ſie blos rund und nur ein wenig gepudert geweſen, dazu haͤtte er auch Hand- und Halskrauſen am Hemd, und war alſo ein vornehmer, weltfoͤrmiger Mann geworden. Hin und wieder verſuchte man’s, mit ihm auf den alten Schlag von der Re- ligion zu reden, dann aber erklaͤrte er ſich freundlich und ernſt- lich: er habe nun lange genug von Pflichten ge- ſchwatzt, jetzt wolle er ſchweigen und ſie aus- uͤben; und da er vollends keiner ihrer Verſammlungen mehr beiwohnte, ſo hielten ſie ihn fuͤr einen Abtruͤnnigen und zogen nun bei allen Gelegenheiten in einem liebloſen und bedauern- den Ton uͤber ihn los. Wie ſehr iſt dieſe Maxime dieſer ſonſt ſo guten und braven Leute zu bejammern! — ich geſtehe gerne, daß die rechtſchaffenſten Leute und beſten Chriſten unter ihnen ſind, aber ſie verderben alles Gute wieder durch ihren Hang zum Richten; wer nicht mit ihnen gerad Eines Sinnes iſt, mit ihnen von Religion taͤndelt und empfindelt, der gilt nichts, und wird fuͤr unwiedergeboren gehalten; ſie beden- ken nicht, daß das Maul-Chriſtenthum gar keinen Werth hat, ſondern daß man ſein Licht durch gute Handlungen muͤſſe leuchten laſſen. Mit Einem Wort: Stilling wurde von ſeinen alten Freunden nicht allein ganz verlaſſen, ſondern ſo- gar verlaͤumdet; und als Arzt brauchten ſie ihn faſt gar nicht. Die Menge der reichen Kaufleute empfingen ihn blos hoͤflich, als einen Mann, der kein Vermoͤgen hat, und dem man gleich auf den erſten Blick den tiefen Eindruck beibrin- gen muß: „hab’ nur ja niemals das Herz, Geld, Huͤlfe und Unterſtuͤtzung von mir zu begehren; ich bezahle deine Muͤhe nach Verdienſt, und weiter nichts.“ Doch fand er auch viele edle Maͤnner, wahre Menſchenſeelen, deren Blick edle Ge- ſinnungen verrieth.“
Das alles machte Stilling doch das Herz ſchwer: bis dahin war er entweder an einen voͤllig beſorgten Tiſch gegan- gen, oder er hatte bezahlen koͤnnen; die Welt um ihn her hatte wenig Bezug auf ihn gehabt, und bei allen ſeinen Lei- den war ſein Wirkungskreis unbedeutend geweſen; aber jetzt
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und waren kalt; das war aber auch kein Wunder, denn er
trug nun eine Peruͤcke mit einem Haarbeutel, ehemals war ſie
blos rund und nur ein wenig gepudert geweſen, dazu haͤtte
er auch Hand- und Halskrauſen am Hemd, und war alſo ein
vornehmer, weltfoͤrmiger Mann geworden. Hin und wieder
verſuchte man’s, mit ihm auf den alten Schlag von der Re-
ligion zu reden, dann aber erklaͤrte er ſich freundlich und ernſt-
lich: er habe nun lange genug von Pflichten ge-
ſchwatzt, jetzt wolle er ſchweigen und ſie aus-
uͤben; und da er vollends keiner ihrer Verſammlungen mehr
beiwohnte, ſo hielten ſie ihn fuͤr einen Abtruͤnnigen und zogen
nun bei allen Gelegenheiten in einem liebloſen und bedauern-
den Ton uͤber ihn los. Wie ſehr iſt dieſe Maxime dieſer ſonſt ſo
guten und braven Leute zu bejammern! — ich geſtehe gerne,
daß die rechtſchaffenſten Leute und beſten Chriſten unter ihnen
ſind, aber ſie verderben alles Gute wieder durch ihren Hang
zum Richten; wer nicht mit ihnen gerad Eines Sinnes iſt,
mit ihnen von Religion taͤndelt und empfindelt, der gilt
nichts, und wird fuͤr unwiedergeboren gehalten; ſie beden-
ken nicht, daß das Maul-Chriſtenthum gar keinen Werth hat,
ſondern daß man ſein Licht durch gute Handlungen muͤſſe
leuchten laſſen. Mit Einem Wort: Stilling wurde von
ſeinen alten Freunden nicht allein ganz verlaſſen, ſondern ſo-
gar verlaͤumdet; und als Arzt brauchten ſie ihn faſt gar
nicht. Die Menge der reichen Kaufleute empfingen ihn blos
hoͤflich, als einen Mann, der kein Vermoͤgen hat, und dem
man gleich auf den erſten Blick den tiefen Eindruck beibrin-
gen muß: „hab’ nur ja niemals das Herz, Geld, Huͤlfe und
Unterſtuͤtzung von mir zu begehren; ich bezahle deine Muͤhe
nach Verdienſt, und weiter nichts.“ Doch fand er auch viele
edle Maͤnner, wahre Menſchenſeelen, deren Blick edle Ge-
ſinnungen verrieth.“
Das alles machte Stilling doch das Herz ſchwer: bis
dahin war er entweder an einen voͤllig beſorgten Tiſch gegan-
gen, oder er hatte bezahlen koͤnnen; die Welt um ihn her
hatte wenig Bezug auf ihn gehabt, und bei allen ſeinen Lei-
den war ſein Wirkungskreis unbedeutend geweſen; aber jetzt
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/305>, abgerufen am 09.10.2024.
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