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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe.
sich ein Ding vom andern nach transsc. Begriffen unter-
scheidet. Der Verstand nemlich verlangt zuerst, daß et-
was gegeben sey, (wenigstens im Begriffe) um es auf ge-
wisse Art bestimmen zu können. Daher geht im Begriffe
des reinen Verstandes die Materie der Form vor, und
Leibnitz nahm um deswillen zuerst Dinge an (Monaden)
und innerlich eine Vorstellungskraft derselben, um darnach
das äussere Verhältniß derselben und die Gemeinschaft ih-
rer Zustände, (nemlich der Vorstellungen) darauf zu grün-
den. Daher waren Raum und Zeit, iener nur durch das
Verhältniß der Substanzen, diese durch die Verknüpfung
der Bestimmungen derselben unter einander, als Gründe
und Folgen, möglich. So würde es auch in der That
seyn müssen, wenn der reine Verstand unmittelbar auf
Gegenstände bezogen werden könte und wenn Raum und
Zeit Bestimmungen der Dinge an sich selbst wären. Sind
es aber nur sinnliche Anschauungen, in denen wir alle
Gegenstände lediglich als Erscheinungen bestimmen, so
geht die Form der Anschauung (als eine subiective Be-
schaffenheit der Sinnlichkeit) vor aller Materie, (den Em-
pfindungen), mithin Raum und Zeit vor allen Erschei-
nungen und allen datis der Erfahrung vorher, und macht
diese vielmehr allererst möglich. Der Intellectualphilosoph
konte es nicht leiden: daß die Form vor den Dingen selbst
vorhergehen, und dieser ihre Möglichkeit bestimmen sollte;
eine ganz richtige Censur, wenn er annahm, daß wir die
Dinge anschauen, wie sie sind, (obgleich mit verworrener

Vor-

Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe.
ſich ein Ding vom andern nach transſc. Begriffen unter-
ſcheidet. Der Verſtand nemlich verlangt zuerſt, daß et-
was gegeben ſey, (wenigſtens im Begriffe) um es auf ge-
wiſſe Art beſtimmen zu koͤnnen. Daher geht im Begriffe
des reinen Verſtandes die Materie der Form vor, und
Leibnitz nahm um deswillen zuerſt Dinge an (Monaden)
und innerlich eine Vorſtellungskraft derſelben, um darnach
das aͤuſſere Verhaͤltniß derſelben und die Gemeinſchaft ih-
rer Zuſtaͤnde, (nemlich der Vorſtellungen) darauf zu gruͤn-
den. Daher waren Raum und Zeit, iener nur durch das
Verhaͤltniß der Subſtanzen, dieſe durch die Verknuͤpfung
der Beſtimmungen derſelben unter einander, als Gruͤnde
und Folgen, moͤglich. So wuͤrde es auch in der That
ſeyn muͤſſen, wenn der reine Verſtand unmittelbar auf
Gegenſtaͤnde bezogen werden koͤnte und wenn Raum und
Zeit Beſtimmungen der Dinge an ſich ſelbſt waͤren. Sind
es aber nur ſinnliche Anſchauungen, in denen wir alle
Gegenſtaͤnde lediglich als Erſcheinungen beſtimmen, ſo
geht die Form der Anſchauung (als eine ſubiective Be-
ſchaffenheit der Sinnlichkeit) vor aller Materie, (den Em-
pfindungen), mithin Raum und Zeit vor allen Erſchei-
nungen und allen datis der Erfahrung vorher, und macht
dieſe vielmehr allererſt moͤglich. Der Intellectualphiloſoph
konte es nicht leiden: daß die Form vor den Dingen ſelbſt
vorhergehen, und dieſer ihre Moͤglichkeit beſtimmen ſollte;
eine ganz richtige Cenſur, wenn er annahm, daß wir die
Dinge anſchauen, wie ſie ſind, (obgleich mit verworrener

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[267/0297] Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe. ſich ein Ding vom andern nach transſc. Begriffen unter- ſcheidet. Der Verſtand nemlich verlangt zuerſt, daß et- was gegeben ſey, (wenigſtens im Begriffe) um es auf ge- wiſſe Art beſtimmen zu koͤnnen. Daher geht im Begriffe des reinen Verſtandes die Materie der Form vor, und Leibnitz nahm um deswillen zuerſt Dinge an (Monaden) und innerlich eine Vorſtellungskraft derſelben, um darnach das aͤuſſere Verhaͤltniß derſelben und die Gemeinſchaft ih- rer Zuſtaͤnde, (nemlich der Vorſtellungen) darauf zu gruͤn- den. Daher waren Raum und Zeit, iener nur durch das Verhaͤltniß der Subſtanzen, dieſe durch die Verknuͤpfung der Beſtimmungen derſelben unter einander, als Gruͤnde und Folgen, moͤglich. So wuͤrde es auch in der That ſeyn muͤſſen, wenn der reine Verſtand unmittelbar auf Gegenſtaͤnde bezogen werden koͤnte und wenn Raum und Zeit Beſtimmungen der Dinge an ſich ſelbſt waͤren. Sind es aber nur ſinnliche Anſchauungen, in denen wir alle Gegenſtaͤnde lediglich als Erſcheinungen beſtimmen, ſo geht die Form der Anſchauung (als eine ſubiective Be- ſchaffenheit der Sinnlichkeit) vor aller Materie, (den Em- pfindungen), mithin Raum und Zeit vor allen Erſchei- nungen und allen datis der Erfahrung vorher, und macht dieſe vielmehr allererſt moͤglich. Der Intellectualphiloſoph konte es nicht leiden: daß die Form vor den Dingen ſelbſt vorhergehen, und dieſer ihre Moͤglichkeit beſtimmen ſollte; eine ganz richtige Cenſur, wenn er annahm, daß wir die Dinge anſchauen, wie ſie ſind, (obgleich mit verworrener Vor-

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/297>, abgerufen am 29.04.2024.