Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Disciplin der reinen Vernunft im dogm. etc.
begriffe aber errichtet sie zwar sichere Grundsätze, aber gar
nicht direct aus Begriffen, sondern immer nur indirect
durch Beziehung dieser Begriffe auf etwas ganz zufälliges,
nemlich mögliche Erfahrung; da sie denn, wenn diese
(etwas als Gegenstand möglicher Erfahrungen) voraus-
gesezt wird, allerdings apodictisch gewiß seyn, an sich selbst
aber (direct) a priori gar nicht einmal erkant werden
können. So kan niemand den Satz: alles was geschieht
hat seine Ursache, aus diesen gegebenen Begriffen allein
gründlich einsehen. Daher ist er kein Dogma, ob er gleich
in einem anderen Gesichtspuncte, nemlich dem einzigen
Felde seines möglichen Gebrauchs, d. i. der Erfahrung,
ganz wol und apodictisch bewiesen werden kan. Er heißt
aber Grundsatz und nicht Lehrsatz, ob er gleich bewiesen
werden muß, darum, weil er die besondere Eigenschaft hat,
daß er seinen Beweisgrund, nemlich Erfahrung, selbst zuerst
möglich macht und bey dieser immer vorausgesezt werden
muß.

Giebt es nun im speculativen Gebrauche der reinen
Vernunft auch dem Inhalte nach gar keine Dogmate, so
ist alle dogmatische Methode, sie mag nun dem Mathema-
tiker abgeborgt seyn, oder eine eigenthümliche Manier
werden sollen, vor sich unschicklich. Denn sie verbirgt
nur die Fehler und Irrthümer und täuscht die Philosophie,
deren eigentliche Absicht ist, alle Schritte der Vernunft in
ihrem kläresten Lichte sehen zu lassen. Gleichwol kan die
Methode immer systematisch seyn. Denn unsere Vernunft

(sub-
A a a

Die Diſciplin der reinen Vernunft im dogm. ꝛc.
begriffe aber errichtet ſie zwar ſichere Grundſaͤtze, aber gar
nicht direct aus Begriffen, ſondern immer nur indirect
durch Beziehung dieſer Begriffe auf etwas ganz zufaͤlliges,
nemlich moͤgliche Erfahrung; da ſie denn, wenn dieſe
(etwas als Gegenſtand moͤglicher Erfahrungen) voraus-
geſezt wird, allerdings apodictiſch gewiß ſeyn, an ſich ſelbſt
aber (direct) a priori gar nicht einmal erkant werden
koͤnnen. So kan niemand den Satz: alles was geſchieht
hat ſeine Urſache, aus dieſen gegebenen Begriffen allein
gruͤndlich einſehen. Daher iſt er kein Dogma, ob er gleich
in einem anderen Geſichtspuncte, nemlich dem einzigen
Felde ſeines moͤglichen Gebrauchs, d. i. der Erfahrung,
ganz wol und apodictiſch bewieſen werden kan. Er heißt
aber Grundſatz und nicht Lehrſatz, ob er gleich bewieſen
werden muß, darum, weil er die beſondere Eigenſchaft hat,
daß er ſeinen Beweisgrund, nemlich Erfahrung, ſelbſt zuerſt
moͤglich macht und bey dieſer immer vorausgeſezt werden
muß.

Giebt es nun im ſpeculativen Gebrauche der reinen
Vernunft auch dem Inhalte nach gar keine Dogmate, ſo
iſt alle dogmatiſche Methode, ſie mag nun dem Mathema-
tiker abgeborgt ſeyn, oder eine eigenthuͤmliche Manier
werden ſollen, vor ſich unſchicklich. Denn ſie verbirgt
nur die Fehler und Irrthuͤmer und taͤuſcht die Philoſophie,
deren eigentliche Abſicht iſt, alle Schritte der Vernunft in
ihrem klaͤreſten Lichte ſehen zu laſſen. Gleichwol kan die
Methode immer ſyſtematiſch ſeyn. Denn unſere Vernunft

(ſub-
A a a
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0767" n="737"/><fw place="top" type="header">Die Di&#x017F;ciplin der reinen Vernunft im dogm. &#xA75B;c.</fw><lb/>
begriffe aber errichtet &#x017F;ie zwar &#x017F;ichere Grund&#x017F;a&#x0364;tze, aber gar<lb/>
nicht direct aus <hi rendition="#fr">Begriffen</hi>, &#x017F;ondern immer nur indirect<lb/>
durch Beziehung die&#x017F;er Begriffe auf etwas ganz zufa&#x0364;lliges,<lb/>
nemlich <hi rendition="#fr">mo&#x0364;gliche Erfahrung</hi>; da &#x017F;ie denn, wenn die&#x017F;e<lb/>
(etwas als Gegen&#x017F;tand mo&#x0364;glicher Erfahrungen) voraus-<lb/>
ge&#x017F;ezt wird, allerdings apodicti&#x017F;ch gewiß &#x017F;eyn, an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
aber (direct) <hi rendition="#aq">a priori</hi> gar nicht einmal erkant werden<lb/>
ko&#x0364;nnen. So kan niemand den Satz: alles was ge&#x017F;chieht<lb/>
hat &#x017F;eine Ur&#x017F;ache, aus die&#x017F;en gegebenen Begriffen allein<lb/>
gru&#x0364;ndlich ein&#x017F;ehen. Daher i&#x017F;t er kein Dogma, ob er gleich<lb/>
in einem anderen Ge&#x017F;ichtspuncte, nemlich dem einzigen<lb/>
Felde &#x017F;eines mo&#x0364;glichen Gebrauchs, d. i. der Erfahrung,<lb/>
ganz wol und apodicti&#x017F;ch bewie&#x017F;en werden kan. Er heißt<lb/>
aber <hi rendition="#fr">Grund&#x017F;atz</hi> und nicht <hi rendition="#fr">Lehr&#x017F;atz,</hi> ob er gleich bewie&#x017F;en<lb/>
werden muß, darum, weil er die be&#x017F;ondere Eigen&#x017F;chaft hat,<lb/>
daß er &#x017F;einen Beweisgrund, nemlich Erfahrung, &#x017F;elb&#x017F;t zuer&#x017F;t<lb/>
mo&#x0364;glich macht und bey die&#x017F;er immer vorausge&#x017F;ezt werden<lb/>
muß.</p><lb/>
            <p>Giebt es nun im &#x017F;peculativen Gebrauche der reinen<lb/>
Vernunft auch dem Inhalte nach gar keine Dogmate, &#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t alle <hi rendition="#fr">dogmati&#x017F;che Methode</hi>, &#x017F;ie mag nun dem Mathema-<lb/>
tiker abgeborgt &#x017F;eyn, oder eine eigenthu&#x0364;mliche Manier<lb/>
werden &#x017F;ollen, vor &#x017F;ich un&#x017F;chicklich. Denn &#x017F;ie verbirgt<lb/>
nur die Fehler und Irrthu&#x0364;mer und ta&#x0364;u&#x017F;cht die Philo&#x017F;ophie,<lb/>
deren eigentliche Ab&#x017F;icht i&#x017F;t, alle Schritte der Vernunft in<lb/>
ihrem kla&#x0364;re&#x017F;ten Lichte &#x017F;ehen zu la&#x017F;&#x017F;en. Gleichwol kan die<lb/>
Methode immer &#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;ch &#x017F;eyn. Denn un&#x017F;ere Vernunft<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">A a a</fw><fw place="bottom" type="catch">(&#x017F;ub-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[737/0767] Die Diſciplin der reinen Vernunft im dogm. ꝛc. begriffe aber errichtet ſie zwar ſichere Grundſaͤtze, aber gar nicht direct aus Begriffen, ſondern immer nur indirect durch Beziehung dieſer Begriffe auf etwas ganz zufaͤlliges, nemlich moͤgliche Erfahrung; da ſie denn, wenn dieſe (etwas als Gegenſtand moͤglicher Erfahrungen) voraus- geſezt wird, allerdings apodictiſch gewiß ſeyn, an ſich ſelbſt aber (direct) a priori gar nicht einmal erkant werden koͤnnen. So kan niemand den Satz: alles was geſchieht hat ſeine Urſache, aus dieſen gegebenen Begriffen allein gruͤndlich einſehen. Daher iſt er kein Dogma, ob er gleich in einem anderen Geſichtspuncte, nemlich dem einzigen Felde ſeines moͤglichen Gebrauchs, d. i. der Erfahrung, ganz wol und apodictiſch bewieſen werden kan. Er heißt aber Grundſatz und nicht Lehrſatz, ob er gleich bewieſen werden muß, darum, weil er die beſondere Eigenſchaft hat, daß er ſeinen Beweisgrund, nemlich Erfahrung, ſelbſt zuerſt moͤglich macht und bey dieſer immer vorausgeſezt werden muß. Giebt es nun im ſpeculativen Gebrauche der reinen Vernunft auch dem Inhalte nach gar keine Dogmate, ſo iſt alle dogmatiſche Methode, ſie mag nun dem Mathema- tiker abgeborgt ſeyn, oder eine eigenthuͤmliche Manier werden ſollen, vor ſich unſchicklich. Denn ſie verbirgt nur die Fehler und Irrthuͤmer und taͤuſcht die Philoſophie, deren eigentliche Abſicht iſt, alle Schritte der Vernunft in ihrem klaͤreſten Lichte ſehen zu laſſen. Gleichwol kan die Methode immer ſyſtematiſch ſeyn. Denn unſere Vernunft (ſub- A a a

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/767
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 737. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/767>, abgerufen am 28.04.2024.