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Keller, Gottfried: Romeo und Julia auf dem Dorfe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–348. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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steinen. Dann empfanden sie einiges Grauen, da sie etwas Geformtes und Belebtes begraben hatten, und entfernten sich ein gutes Stück von der unheimlichen Stätte. Auf einem ganz mit grünen Kräutern bedeckten Plätzchen legte sich das Dirnchen auf den Rücken, da es müde war, und begann in eintöniger Weise einige Worte zu singen, immer die nämlichen, und der Junge kauerte daneben und half, indem er nicht wußte, ob er auch vollends umfallen solle, so lässig und müßig war er. Die Sonne schien dem singenden Mädchen in den geöffneten Mund, beleuchtete dessen blendendweiße Zähnchen und durchschimmerte die runden Purpurlippen. Der Knabe sah die Zähne, und dem Mädchen den Kopf haltend und dessen Zähnchen neugierig untersuchend rief er: Rathe, wie viele Zähne hat man? Das Mädchen besann sich einen Augenblick, als ob es reiflich nachzählte, und sagte dann auf Gerathewohl: Hundert! Nein, zwei und dreißig! rief er, wart, ich will einmal zählen! Da zählte er die Zähne des Kindes, und weil er nicht zwei und dreißig herausbrachte, so fing er immer wieder von Neuem an. Das Mädchen hielt lange still, als aber der eifrige Zähler nicht zu Ende kam, raffte es sich auf und rief: Nun will ich deine zählen! Nun legte sich der Bursche hin ins Kraut, das Mädchen über ihn, umschlang seinen Kopf, er sperrte das Maul auf, und es zählte: Eins, zwei, sieben, fünf, zwei, eins; denn die kleine Schöne konnte noch nicht zählen. Der Junge verbesserte sie und gab ihr

steinen. Dann empfanden sie einiges Grauen, da sie etwas Geformtes und Belebtes begraben hatten, und entfernten sich ein gutes Stück von der unheimlichen Stätte. Auf einem ganz mit grünen Kräutern bedeckten Plätzchen legte sich das Dirnchen auf den Rücken, da es müde war, und begann in eintöniger Weise einige Worte zu singen, immer die nämlichen, und der Junge kauerte daneben und half, indem er nicht wußte, ob er auch vollends umfallen solle, so lässig und müßig war er. Die Sonne schien dem singenden Mädchen in den geöffneten Mund, beleuchtete dessen blendendweiße Zähnchen und durchschimmerte die runden Purpurlippen. Der Knabe sah die Zähne, und dem Mädchen den Kopf haltend und dessen Zähnchen neugierig untersuchend rief er: Rathe, wie viele Zähne hat man? Das Mädchen besann sich einen Augenblick, als ob es reiflich nachzählte, und sagte dann auf Gerathewohl: Hundert! Nein, zwei und dreißig! rief er, wart, ich will einmal zählen! Da zählte er die Zähne des Kindes, und weil er nicht zwei und dreißig herausbrachte, so fing er immer wieder von Neuem an. Das Mädchen hielt lange still, als aber der eifrige Zähler nicht zu Ende kam, raffte es sich auf und rief: Nun will ich deine zählen! Nun legte sich der Bursche hin ins Kraut, das Mädchen über ihn, umschlang seinen Kopf, er sperrte das Maul auf, und es zählte: Eins, zwei, sieben, fünf, zwei, eins; denn die kleine Schöne konnte noch nicht zählen. Der Junge verbesserte sie und gab ihr

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steinen. Dann empfanden sie einiges Grauen, da sie etwas                Geformtes und Belebtes begraben hatten, und entfernten sich ein gutes Stück von der                unheimlichen Stätte. Auf einem ganz mit grünen Kräutern bedeckten Plätzchen legte                sich das Dirnchen auf den Rücken, da es müde war, und begann in eintöniger Weise                einige Worte zu singen, immer die nämlichen, und der Junge kauerte daneben und half,                indem er nicht wußte, ob er auch vollends umfallen solle, so lässig und müßig war er.                Die Sonne schien dem singenden Mädchen in den geöffneten Mund, beleuchtete dessen                blendendweiße Zähnchen und durchschimmerte die runden Purpurlippen. Der Knabe sah die                Zähne, und dem Mädchen den Kopf haltend und dessen Zähnchen neugierig untersuchend                rief er: Rathe, wie viele Zähne hat man? Das Mädchen besann sich einen Augenblick,                als ob es reiflich nachzählte, und sagte dann auf Gerathewohl: Hundert! Nein, zwei                und dreißig! rief er, wart, ich will einmal zählen! Da zählte er die Zähne des                Kindes, und weil er nicht zwei und dreißig herausbrachte, so fing er immer wieder von                Neuem an. Das Mädchen hielt lange still, als aber der eifrige Zähler nicht zu Ende                kam, raffte es sich auf und rief: Nun will ich deine zählen! Nun legte sich der                Bursche hin ins Kraut, das Mädchen über ihn, umschlang seinen Kopf, er sperrte das                Maul auf, und es zählte: Eins, zwei, sieben, fünf, zwei, eins; denn die kleine Schöne                konnte noch nicht zählen. Der Junge verbesserte sie und gab ihr<lb/></p>
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[0019] steinen. Dann empfanden sie einiges Grauen, da sie etwas Geformtes und Belebtes begraben hatten, und entfernten sich ein gutes Stück von der unheimlichen Stätte. Auf einem ganz mit grünen Kräutern bedeckten Plätzchen legte sich das Dirnchen auf den Rücken, da es müde war, und begann in eintöniger Weise einige Worte zu singen, immer die nämlichen, und der Junge kauerte daneben und half, indem er nicht wußte, ob er auch vollends umfallen solle, so lässig und müßig war er. Die Sonne schien dem singenden Mädchen in den geöffneten Mund, beleuchtete dessen blendendweiße Zähnchen und durchschimmerte die runden Purpurlippen. Der Knabe sah die Zähne, und dem Mädchen den Kopf haltend und dessen Zähnchen neugierig untersuchend rief er: Rathe, wie viele Zähne hat man? Das Mädchen besann sich einen Augenblick, als ob es reiflich nachzählte, und sagte dann auf Gerathewohl: Hundert! Nein, zwei und dreißig! rief er, wart, ich will einmal zählen! Da zählte er die Zähne des Kindes, und weil er nicht zwei und dreißig herausbrachte, so fing er immer wieder von Neuem an. Das Mädchen hielt lange still, als aber der eifrige Zähler nicht zu Ende kam, raffte es sich auf und rief: Nun will ich deine zählen! Nun legte sich der Bursche hin ins Kraut, das Mädchen über ihn, umschlang seinen Kopf, er sperrte das Maul auf, und es zählte: Eins, zwei, sieben, fünf, zwei, eins; denn die kleine Schöne konnte noch nicht zählen. Der Junge verbesserte sie und gab ihr

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:34:29Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:34:29Z)

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Romeo und Julia auf dem Dorfe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–348. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_dorfe_1910/19>, abgerufen am 29.03.2024.