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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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gegangenen Geschlechter, es ist unmöglich, daß
bis zur Tiefe von zehn Fuß ein Körnlein sei,
welches nicht seine Wanderung durch den mensch¬
lichen Organismus gemacht und einst die übrige
Erde mit umgraben geholfen hat. Doch ich über¬
treibe und vergesse die vier Tannenbretter, welche
jedesmal mit in die Erde kommen und den eben
so alten Riesengeschlechtern auf den grünen Ber¬
gen rings entstammen; ich vergesse ferner die
derbe ehrliche Leinwand der Grabhemden, welche
auf diesen Fluren wuchs, gesponnen und gebleicht
wurde, und also so gut zur Familie gehört, wie
jene Tannenbretter, und nicht hindert, daß die
Erde unseres Kirchhofes so schön kühl und schwarz
sei, als irgend eine. Es wächst auch das grünste
Gras darauf, und die Rosen nebst dem Jasmin
wuchern in göttlicher Unordnung und Ueberfülle,
so daß nicht einzelne Stäudlein auf ein frisches
Grab gesetzt, sondern das Grab muß in den
Blumenwald hineingehauen werden, und nur der
Todtengräber kennt genau die Gränze in diesem
Wirrsal, wo das frisch umzugrabende Gebiet
anfängt.

gegangenen Geſchlechter, es iſt unmoͤglich, daß
bis zur Tiefe von zehn Fuß ein Koͤrnlein ſei,
welches nicht ſeine Wanderung durch den menſch¬
lichen Organismus gemacht und einſt die uͤbrige
Erde mit umgraben geholfen hat. Doch ich uͤber¬
treibe und vergeſſe die vier Tannenbretter, welche
jedesmal mit in die Erde kommen und den eben
ſo alten Rieſengeſchlechtern auf den gruͤnen Ber¬
gen rings entſtammen; ich vergeſſe ferner die
derbe ehrliche Leinwand der Grabhemden, welche
auf dieſen Fluren wuchs, geſponnen und gebleicht
wurde, und alſo ſo gut zur Familie gehoͤrt, wie
jene Tannenbretter, und nicht hindert, daß die
Erde unſeres Kirchhofes ſo ſchoͤn kuͤhl und ſchwarz
ſei, als irgend eine. Es waͤchſt auch das gruͤnſte
Gras darauf, und die Roſen nebſt dem Jasmin
wuchern in goͤttlicher Unordnung und Ueberfuͤlle,
ſo daß nicht einzelne Staͤudlein auf ein friſches
Grab geſetzt, ſondern das Grab muß in den
Blumenwald hineingehauen werden, und nur der
Todtengraͤber kennt genau die Graͤnze in dieſem
Wirrſal, wo das friſch umzugrabende Gebiet
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[92/0106] gegangenen Geſchlechter, es iſt unmoͤglich, daß bis zur Tiefe von zehn Fuß ein Koͤrnlein ſei, welches nicht ſeine Wanderung durch den menſch¬ lichen Organismus gemacht und einſt die uͤbrige Erde mit umgraben geholfen hat. Doch ich uͤber¬ treibe und vergeſſe die vier Tannenbretter, welche jedesmal mit in die Erde kommen und den eben ſo alten Rieſengeſchlechtern auf den gruͤnen Ber¬ gen rings entſtammen; ich vergeſſe ferner die derbe ehrliche Leinwand der Grabhemden, welche auf dieſen Fluren wuchs, geſponnen und gebleicht wurde, und alſo ſo gut zur Familie gehoͤrt, wie jene Tannenbretter, und nicht hindert, daß die Erde unſeres Kirchhofes ſo ſchoͤn kuͤhl und ſchwarz ſei, als irgend eine. Es waͤchſt auch das gruͤnſte Gras darauf, und die Roſen nebſt dem Jasmin wuchern in goͤttlicher Unordnung und Ueberfuͤlle, ſo daß nicht einzelne Staͤudlein auf ein friſches Grab geſetzt, ſondern das Grab muß in den Blumenwald hineingehauen werden, und nur der Todtengraͤber kennt genau die Graͤnze in dieſem Wirrſal, wo das friſch umzugrabende Gebiet anfaͤngt.

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/106>, abgerufen am 28.03.2024.