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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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Hingebung, welche gewöhnlich nur Eigenschaften
von leidenschaftlichen Privatschulmännern zu sein
pflegen. Mein Vater hatte bei seinen Lebzeiten
für die Einrichtung und für die Ergebnisse dieser
Anstalt geschwärmt und oft den Entschluß aus¬
gesprochen, meine ersten Schuljahre in derselben
verfließen zu lassen, schon darin eine Erziehungs¬
maßregel suchend, daß ich mit den ärmsten Kin¬
dern der Stadt meine frühsten Jugendjahre zu¬
brächte, und aller Kastengeist und Hochmuth so
im Keime erstickt würden. Diese Absicht war
für meine Mutter ein heiliges Vermächtniß und
erleichterte ihr die Wahl der ersten Schule für
mich. In einem großen Saale wurden etwa
hundert Kinder unterrichtet, zur Hälfte Knaben,
zur Hälfte Mädchen, vom fünften bis zum zwölf¬
ten Jahre. Sechs lange Schulbänke standen in
der Mitte, von dem einen Geschlechte besetzt, jede
bildete eine Altersklasse, und davor stand ein
vorgeschrittener Schüler von elf bis zwölf Jah¬
ren und unterrichtete die ganze Bank, welche
ihm anvertraut war, indessen das andere Ge¬
schlecht in Halbkreisen um sechs Pulte herum

Hingebung, welche gewoͤhnlich nur Eigenſchaften
von leidenſchaftlichen Privatſchulmaͤnnern zu ſein
pflegen. Mein Vater hatte bei ſeinen Lebzeiten
fuͤr die Einrichtung und fuͤr die Ergebniſſe dieſer
Anſtalt geſchwaͤrmt und oft den Entſchluß aus¬
geſprochen, meine erſten Schuljahre in derſelben
verfließen zu laſſen, ſchon darin eine Erziehungs¬
maßregel ſuchend, daß ich mit den aͤrmſten Kin¬
dern der Stadt meine fruͤhſten Jugendjahre zu¬
braͤchte, und aller Kaſtengeiſt und Hochmuth ſo
im Keime erſtickt wuͤrden. Dieſe Abſicht war
fuͤr meine Mutter ein heiliges Vermaͤchtniß und
erleichterte ihr die Wahl der erſten Schule fuͤr
mich. In einem großen Saale wurden etwa
hundert Kinder unterrichtet, zur Haͤlfte Knaben,
zur Haͤlfte Maͤdchen, vom fuͤnften bis zum zwoͤlf¬
ten Jahre. Sechs lange Schulbaͤnke ſtanden in
der Mitte, von dem einen Geſchlechte beſetzt, jede
bildete eine Altersklaſſe, und davor ſtand ein
vorgeſchrittener Schuͤler von elf bis zwoͤlf Jah¬
ren und unterrichtete die ganze Bank, welche
ihm anvertraut war, indeſſen das andere Ge¬
ſchlecht in Halbkreiſen um ſechs Pulte herum

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[228/0242] Hingebung, welche gewoͤhnlich nur Eigenſchaften von leidenſchaftlichen Privatſchulmaͤnnern zu ſein pflegen. Mein Vater hatte bei ſeinen Lebzeiten fuͤr die Einrichtung und fuͤr die Ergebniſſe dieſer Anſtalt geſchwaͤrmt und oft den Entſchluß aus¬ geſprochen, meine erſten Schuljahre in derſelben verfließen zu laſſen, ſchon darin eine Erziehungs¬ maßregel ſuchend, daß ich mit den aͤrmſten Kin¬ dern der Stadt meine fruͤhſten Jugendjahre zu¬ braͤchte, und aller Kaſtengeiſt und Hochmuth ſo im Keime erſtickt wuͤrden. Dieſe Abſicht war fuͤr meine Mutter ein heiliges Vermaͤchtniß und erleichterte ihr die Wahl der erſten Schule fuͤr mich. In einem großen Saale wurden etwa hundert Kinder unterrichtet, zur Haͤlfte Knaben, zur Haͤlfte Maͤdchen, vom fuͤnften bis zum zwoͤlf¬ ten Jahre. Sechs lange Schulbaͤnke ſtanden in der Mitte, von dem einen Geſchlechte beſetzt, jede bildete eine Altersklaſſe, und davor ſtand ein vorgeſchrittener Schuͤler von elf bis zwoͤlf Jah¬ ren und unterrichtete die ganze Bank, welche ihm anvertraut war, indeſſen das andere Ge¬ ſchlecht in Halbkreiſen um ſechs Pulte herum

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/242>, abgerufen am 29.03.2024.