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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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treten wäre; denn so wenige Jahre seit seinem
Tode verflossen, so hatte sein Bild in der Vor¬
stellung des jüngsten Geschlechtes bereits etwas
Dämonisch-Göttliches angenommen, das, wenn
es als eine Gestaltung der entfesselten Phantasie
Einem im Traume erschien, mit ahnungsvollem
Schauer erfüllen konnte. Vor einigen Jahren
hatte ein deutscher Schreinergeselle, welcher in
unserer Stube etwas zurecht hämmerte, dabei von
ungefähr gesagt: "Der große Göthe ist gestorben,"
und dies unbeachtete Wort klang mir immer
wieder nach. Der unbekannte Todte schritt fast
durch alle Beschäftigungen und Anregungen und
überall zog er angeknüpfte Fäden an sich, deren
Enden nur in seiner unsichtbaren Hand ver¬
schwanden. Als ob ich jetzt alle diese Fäden in
dem ungeschlachten Knoten der Schnur, welche
die Bücher umwand, beisammen hätte, fiel ich
über denselben her und begann hastig ihn aufzu¬
lösen, und als er endlich aufging, da fielen die
goldenen Früchte des achtzigjährigen Lebens auf
das Schönste auseinander, verbreiteten sich über
das Ruhbett und fielen über dessen Rand auf

treten waͤre; denn ſo wenige Jahre ſeit ſeinem
Tode verfloſſen, ſo hatte ſein Bild in der Vor¬
ſtellung des juͤngſten Geſchlechtes bereits etwas
Daͤmoniſch-Goͤttliches angenommen, das, wenn
es als eine Geſtaltung der entfeſſelten Phantaſie
Einem im Traume erſchien, mit ahnungsvollem
Schauer erfuͤllen konnte. Vor einigen Jahren
hatte ein deutſcher Schreinergeſelle, welcher in
unſerer Stube etwas zurecht haͤmmerte, dabei von
ungefaͤhr geſagt: »Der große Goͤthe iſt geſtorben,«
und dies unbeachtete Wort klang mir immer
wieder nach. Der unbekannte Todte ſchritt faſt
durch alle Beſchaͤftigungen und Anregungen und
uͤberall zog er angeknuͤpfte Faͤden an ſich, deren
Enden nur in ſeiner unſichtbaren Hand ver¬
ſchwanden. Als ob ich jetzt alle dieſe Faͤden in
dem ungeſchlachten Knoten der Schnur, welche
die Buͤcher umwand, beiſammen haͤtte, fiel ich
uͤber denſelben her und begann haſtig ihn aufzu¬
loͤſen, und als er endlich aufging, da fielen die
goldenen Fruͤchte des achtzigjaͤhrigen Lebens auf
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[5/0015] treten waͤre; denn ſo wenige Jahre ſeit ſeinem Tode verfloſſen, ſo hatte ſein Bild in der Vor¬ ſtellung des juͤngſten Geſchlechtes bereits etwas Daͤmoniſch-Goͤttliches angenommen, das, wenn es als eine Geſtaltung der entfeſſelten Phantaſie Einem im Traume erſchien, mit ahnungsvollem Schauer erfuͤllen konnte. Vor einigen Jahren hatte ein deutſcher Schreinergeſelle, welcher in unſerer Stube etwas zurecht haͤmmerte, dabei von ungefaͤhr geſagt: »Der große Goͤthe iſt geſtorben,« und dies unbeachtete Wort klang mir immer wieder nach. Der unbekannte Todte ſchritt faſt durch alle Beſchaͤftigungen und Anregungen und uͤberall zog er angeknuͤpfte Faͤden an ſich, deren Enden nur in ſeiner unſichtbaren Hand ver¬ ſchwanden. Als ob ich jetzt alle dieſe Faͤden in dem ungeſchlachten Knoten der Schnur, welche die Buͤcher umwand, beiſammen haͤtte, fiel ich uͤber denſelben her und begann haſtig ihn aufzu¬ loͤſen, und als er endlich aufging, da fielen die goldenen Fruͤchte des achtzigjaͤhrigen Lebens auf das Schoͤnſte auseinander, verbreiteten ſich uͤber das Ruhbett und fielen uͤber deſſen Rand auf

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/15>, abgerufen am 23.04.2024.