Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

Welt und macht den Mann; die Welt ist inner¬
lich ruhig und still, und so muß es auch der
Mann sein, der sie verstehen und als ein wir¬
kender Theil von ihr sie widerspiegeln will.
Ruhe zieht das Leben an, Unruhe verscheucht es;
Gott hält sich mäuschenstill, darum bewegt sich
die Welt um ihn. Für den künstlerischen Menschen
nun wäre dies so anzuwenden, daß er sich eher
leidend und zusehend verhalten und die Dinge
an sich vorüberziehen lassen, als ihnen nachjagen
soll; denn wer in einem festlichen Zuge mitzieht,
kann denselben nicht so beschreiben, wie der,
welcher am Wege steht. Dieser ist darum nicht
überflüssig oder müßig, und der Seher ist erst
das ganze Leben des Gesehenen, und wenn er
ein rechter Seher ist, so kommt der Augenblick,
wo er sich dem Zuge anschließt mit seinem gol¬
denen Spiegel, gleich dem achten Könige im
Macbeth, der in seinem Spiegel noch viele Kö¬
nige sehen ließ. Auch nicht ohne äußere That
und Mühe ist das Sehen des ruhig Leidenden,
gleichwie der Zuschauer eines Festzuges genug
Mühe hat, einen guten Platz zu erringen oder

Welt und macht den Mann; die Welt iſt inner¬
lich ruhig und ſtill, und ſo muß es auch der
Mann ſein, der ſie verſtehen und als ein wir¬
kender Theil von ihr ſie widerſpiegeln will.
Ruhe zieht das Leben an, Unruhe verſcheucht es;
Gott haͤlt ſich maͤuschenſtill, darum bewegt ſich
die Welt um ihn. Fuͤr den kuͤnſtleriſchen Menſchen
nun waͤre dies ſo anzuwenden, daß er ſich eher
leidend und zuſehend verhalten und die Dinge
an ſich voruͤberziehen laſſen, als ihnen nachjagen
ſoll; denn wer in einem feſtlichen Zuge mitzieht,
kann denſelben nicht ſo beſchreiben, wie der,
welcher am Wege ſteht. Dieſer iſt darum nicht
uͤberfluͤſſig oder muͤßig, und der Seher iſt erſt
das ganze Leben des Geſehenen, und wenn er
ein rechter Seher iſt, ſo kommt der Augenblick,
wo er ſich dem Zuge anſchließt mit ſeinem gol¬
denen Spiegel, gleich dem achten Koͤnige im
Macbeth, der in ſeinem Spiegel noch viele Koͤ¬
nige ſehen ließ. Auch nicht ohne aͤußere That
und Muͤhe iſt das Sehen des ruhig Leidenden,
gleichwie der Zuſchauer eines Feſtzuges genug
Muͤhe hat, einen guten Platz zu erringen oder

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0019" n="9"/>
Welt und macht den Mann; die Welt i&#x017F;t inner¬<lb/>
lich ruhig und &#x017F;till, und &#x017F;o muß es auch der<lb/>
Mann &#x017F;ein, der &#x017F;ie ver&#x017F;tehen und als ein wir¬<lb/>
kender Theil von ihr &#x017F;ie wider&#x017F;piegeln will.<lb/>
Ruhe zieht das Leben an, Unruhe ver&#x017F;cheucht es;<lb/>
Gott ha&#x0364;lt &#x017F;ich ma&#x0364;uschen&#x017F;till, darum bewegt &#x017F;ich<lb/>
die Welt um ihn. Fu&#x0364;r den ku&#x0364;n&#x017F;tleri&#x017F;chen Men&#x017F;chen<lb/>
nun wa&#x0364;re dies &#x017F;o anzuwenden, daß er &#x017F;ich eher<lb/>
leidend und zu&#x017F;ehend verhalten und die Dinge<lb/>
an &#x017F;ich voru&#x0364;berziehen la&#x017F;&#x017F;en, als ihnen nachjagen<lb/>
&#x017F;oll; denn wer in einem fe&#x017F;tlichen Zuge mitzieht,<lb/>
kann den&#x017F;elben nicht &#x017F;o be&#x017F;chreiben, wie der,<lb/>
welcher am Wege &#x017F;teht. Die&#x017F;er i&#x017F;t darum nicht<lb/>
u&#x0364;berflu&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig oder mu&#x0364;ßig, und der Seher i&#x017F;t er&#x017F;t<lb/>
das ganze Leben des Ge&#x017F;ehenen, und wenn er<lb/>
ein rechter Seher i&#x017F;t, &#x017F;o kommt der Augenblick,<lb/>
wo er &#x017F;ich dem Zuge an&#x017F;chließt mit &#x017F;einem gol¬<lb/>
denen Spiegel, gleich dem achten Ko&#x0364;nige im<lb/>
Macbeth, der in &#x017F;einem Spiegel noch viele Ko&#x0364;¬<lb/>
nige &#x017F;ehen ließ. Auch nicht ohne <hi rendition="#g">a&#x0364;ußere</hi> That<lb/>
und Mu&#x0364;he i&#x017F;t das Sehen des ruhig Leidenden,<lb/>
gleichwie der Zu&#x017F;chauer eines Fe&#x017F;tzuges genug<lb/>
Mu&#x0364;he hat, einen guten Platz zu erringen oder<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[9/0019] Welt und macht den Mann; die Welt iſt inner¬ lich ruhig und ſtill, und ſo muß es auch der Mann ſein, der ſie verſtehen und als ein wir¬ kender Theil von ihr ſie widerſpiegeln will. Ruhe zieht das Leben an, Unruhe verſcheucht es; Gott haͤlt ſich maͤuschenſtill, darum bewegt ſich die Welt um ihn. Fuͤr den kuͤnſtleriſchen Menſchen nun waͤre dies ſo anzuwenden, daß er ſich eher leidend und zuſehend verhalten und die Dinge an ſich voruͤberziehen laſſen, als ihnen nachjagen ſoll; denn wer in einem feſtlichen Zuge mitzieht, kann denſelben nicht ſo beſchreiben, wie der, welcher am Wege ſteht. Dieſer iſt darum nicht uͤberfluͤſſig oder muͤßig, und der Seher iſt erſt das ganze Leben des Geſehenen, und wenn er ein rechter Seher iſt, ſo kommt der Augenblick, wo er ſich dem Zuge anſchließt mit ſeinem gol¬ denen Spiegel, gleich dem achten Koͤnige im Macbeth, der in ſeinem Spiegel noch viele Koͤ¬ nige ſehen ließ. Auch nicht ohne aͤußere That und Muͤhe iſt das Sehen des ruhig Leidenden, gleichwie der Zuſchauer eines Feſtzuges genug Muͤhe hat, einen guten Platz zu erringen oder

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/19
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/19>, abgerufen am 25.04.2024.