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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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auf zu lesen und ich ließ mir dies nicht zwei
Mal sagen. Im Anfange wollte es nicht recht
gehen, ich fand wohl Alles schön, aber das Ein¬
fache und Kolossale war mir noch zu ungewohnt
und ich vermochte nicht lange nach einander aus¬
zuhalten. Am meisten fesselten mich nur die be¬
wegtesten Vorgänge, besonders in der Odyssee,
während die Ilias mir lange nicht nahe treten
wollte. Aber Römer machte mich aufmerksam,
wie Homer in jeder Bewegung und Stellung das
einzig Nöthige und Angemessene anwende, wie
jedes Gefäß und jede Kleidung, die er beschreibe,
zugleich das Geschmackvollste sei, was man sich
denken könne, und wie endlich jede Situation
und jeder moralische Conflict bei ihm bei aller
fast kindlichen Einfachheit von der gewähltesten
Poesie getränkt sei. "Da verlangt man heut zu
Tage immer nach dem Ausgesuchten, Interessanten
und Pikanten und weiß in seiner Stumpfheit
gar nicht, daß es gar nichts Ausgesuchteres, Pi¬
kanteres und ewig Neues geben kann, als so
einen homerischen Einfall in seiner einfachen
Klassicität! Ich wünsche Ihnen nicht, lieber Lee,

auf zu leſen und ich ließ mir dies nicht zwei
Mal ſagen. Im Anfange wollte es nicht recht
gehen, ich fand wohl Alles ſchoͤn, aber das Ein¬
fache und Koloſſale war mir noch zu ungewohnt
und ich vermochte nicht lange nach einander aus¬
zuhalten. Am meiſten feſſelten mich nur die be¬
wegteſten Vorgaͤnge, beſonders in der Odyſſee,
waͤhrend die Ilias mir lange nicht nahe treten
wollte. Aber Roͤmer machte mich aufmerkſam,
wie Homer in jeder Bewegung und Stellung das
einzig Noͤthige und Angemeſſene anwende, wie
jedes Gefaͤß und jede Kleidung, die er beſchreibe,
zugleich das Geſchmackvollſte ſei, was man ſich
denken koͤnne, und wie endlich jede Situation
und jeder moraliſche Conflict bei ihm bei aller
faſt kindlichen Einfachheit von der gewaͤhlteſten
Poeſie getraͤnkt ſei. »Da verlangt man heut zu
Tage immer nach dem Ausgeſuchten, Intereſſanten
und Pikanten und weiß in ſeiner Stumpfheit
gar nicht, daß es gar nichts Ausgeſuchteres, Pi¬
kanteres und ewig Neues geben kann, als ſo
einen homeriſchen Einfall in ſeiner einfachen
Klaſſicitaͤt! Ich wuͤnſche Ihnen nicht, lieber Lee,

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[36/0046] auf zu leſen und ich ließ mir dies nicht zwei Mal ſagen. Im Anfange wollte es nicht recht gehen, ich fand wohl Alles ſchoͤn, aber das Ein¬ fache und Koloſſale war mir noch zu ungewohnt und ich vermochte nicht lange nach einander aus¬ zuhalten. Am meiſten feſſelten mich nur die be¬ wegteſten Vorgaͤnge, beſonders in der Odyſſee, waͤhrend die Ilias mir lange nicht nahe treten wollte. Aber Roͤmer machte mich aufmerkſam, wie Homer in jeder Bewegung und Stellung das einzig Noͤthige und Angemeſſene anwende, wie jedes Gefaͤß und jede Kleidung, die er beſchreibe, zugleich das Geſchmackvollſte ſei, was man ſich denken koͤnne, und wie endlich jede Situation und jeder moraliſche Conflict bei ihm bei aller faſt kindlichen Einfachheit von der gewaͤhlteſten Poeſie getraͤnkt ſei. »Da verlangt man heut zu Tage immer nach dem Ausgeſuchten, Intereſſanten und Pikanten und weiß in ſeiner Stumpfheit gar nicht, daß es gar nichts Ausgeſuchteres, Pi¬ kanteres und ewig Neues geben kann, als ſo einen homeriſchen Einfall in ſeiner einfachen Klaſſicitaͤt! Ich wuͤnſche Ihnen nicht, lieber Lee,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/46>, abgerufen am 29.03.2024.