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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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daß Sie jemals die ausgesuchte pikante Wahrheit
in der Lage des Odysseus, wo er nackt und mit
Schlamm bedeckt vor Nausikaa und ihren Ge¬
spielen erscheint, so recht aus Erfahrung empfin¬
den lernen! Wollen Sie wissen, wie dies zu¬
geht? Halten wir das Beispiel einmal fest!
Wenn Sie einst getrennt von Ihrer Heimath
und von Ihrer Mutter und Allem, was Ihnen
lieb ist, in der Fremde umherschweifen, und Sie
haben viel gesehen und viel erfahren, haben
Kummer und Sorge, sind wohl gar elend und
verlassen: so wird es Ihnen des Nachts unfehl¬
bar träumen, daß Sie sich Ihrer Heimath nähern:
Sie sehen sie glänzen und leuchten in den schönsten
Farben; holde, feine und liebe Gestalten treten
Ihnen entgegen; da entdecken Sie plötzlich,
daß Sie zerfetzt, nackt und kothbedeckt einher¬
gehen; eine namenlose Scham und Angst faßt
Sie, Sie suchen sich zu bedecken, zu verbergen
und erwachen in Schweiß gebadet. Dies ist,
so lange es Menschen giebt, der Traum des
kummervollen umhergeworfenen Mannes, und so
hat Homer jene Lage aus dem tiefsten und

daß Sie jemals die ausgeſuchte pikante Wahrheit
in der Lage des Odyſſeus, wo er nackt und mit
Schlamm bedeckt vor Nauſikaa und ihren Ge¬
ſpielen erſcheint, ſo recht aus Erfahrung empfin¬
den lernen! Wollen Sie wiſſen, wie dies zu¬
geht? Halten wir das Beiſpiel einmal feſt!
Wenn Sie einſt getrennt von Ihrer Heimath
und von Ihrer Mutter und Allem, was Ihnen
lieb iſt, in der Fremde umherſchweifen, und Sie
haben viel geſehen und viel erfahren, haben
Kummer und Sorge, ſind wohl gar elend und
verlaſſen: ſo wird es Ihnen des Nachts unfehl¬
bar traͤumen, daß Sie ſich Ihrer Heimath naͤhern:
Sie ſehen ſie glaͤnzen und leuchten in den ſchoͤnſten
Farben; holde, feine und liebe Geſtalten treten
Ihnen entgegen; da entdecken Sie ploͤtzlich,
daß Sie zerfetzt, nackt und kothbedeckt einher¬
gehen; eine namenloſe Scham und Angſt faßt
Sie, Sie ſuchen ſich zu bedecken, zu verbergen
und erwachen in Schweiß gebadet. Dies iſt,
ſo lange es Menſchen giebt, der Traum des
kummervollen umhergeworfenen Mannes, und ſo
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[37/0047] daß Sie jemals die ausgeſuchte pikante Wahrheit in der Lage des Odyſſeus, wo er nackt und mit Schlamm bedeckt vor Nauſikaa und ihren Ge¬ ſpielen erſcheint, ſo recht aus Erfahrung empfin¬ den lernen! Wollen Sie wiſſen, wie dies zu¬ geht? Halten wir das Beiſpiel einmal feſt! Wenn Sie einſt getrennt von Ihrer Heimath und von Ihrer Mutter und Allem, was Ihnen lieb iſt, in der Fremde umherſchweifen, und Sie haben viel geſehen und viel erfahren, haben Kummer und Sorge, ſind wohl gar elend und verlaſſen: ſo wird es Ihnen des Nachts unfehl¬ bar traͤumen, daß Sie ſich Ihrer Heimath naͤhern: Sie ſehen ſie glaͤnzen und leuchten in den ſchoͤnſten Farben; holde, feine und liebe Geſtalten treten Ihnen entgegen; da entdecken Sie ploͤtzlich, daß Sie zerfetzt, nackt und kothbedeckt einher¬ gehen; eine namenloſe Scham und Angſt faßt Sie, Sie ſuchen ſich zu bedecken, zu verbergen und erwachen in Schweiß gebadet. Dies iſt, ſo lange es Menſchen giebt, der Traum des kummervollen umhergeworfenen Mannes, und ſo hat Homer jene Lage aus dem tiefſten und

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/47>, abgerufen am 18.04.2024.