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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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helle Mondlicht durchklang und in ihrer klaren
Bestimmtheit mit den scharfen Umrissen der voll
beleuchteten Gegenstände wetteiferte. Agnes saß
zuhinterst in der matt erleuchteten Stube; die
schöne Musik tönte in ihren dumpfen Schmerz
hinein, sie erhob das schwere Köpfchen und lauschte
alsobald mit kindlich neugierigem Wohlbehagen
den Tönen, ohne sich zu wundern noch zu küm¬
mern, woher sie kämen. Ihre Mutter dagegen
eilte an's Fenster, und sobald sie sich überzeugt
hatte, daß die Herren nur an ihr Haus hinauf¬
spielten, rief sie: "Bei Maria's Hülf und from¬
mer Fürbitte! Wir haben ein Ständchen! Wir
haben ein Ständchen!" Sie zündete sogleich die
zwei rosenrothen Wachskerzen an, welche sonst
immer wie Altarleuchter vor ihrem Bildnisse
standen, und stellte dieselben feierlich auf den
Tisch, damit Jedermann an der hell erleuchteten
Stube sehen sollte, wem die Musik gelte. Dann
zog sie ihre Tochter, die sie kurz vorher geschol¬
ten hatte, freundlich zum Fenster und Agnes sah
lächelnd auf die freundlichen Musiker nieder.
Diese gingen nun in einen rascheren Takt und

helle Mondlicht durchklang und in ihrer klaren
Beſtimmtheit mit den ſcharfen Umriſſen der voll
beleuchteten Gegenſtaͤnde wetteiferte. Agnes ſaß
zuhinterſt in der matt erleuchteten Stube; die
ſchoͤne Muſik toͤnte in ihren dumpfen Schmerz
hinein, ſie erhob das ſchwere Koͤpfchen und lauſchte
alſobald mit kindlich neugierigem Wohlbehagen
den Toͤnen, ohne ſich zu wundern noch zu kuͤm¬
mern, woher ſie kaͤmen. Ihre Mutter dagegen
eilte an's Fenſter, und ſobald ſie ſich uͤberzeugt
hatte, daß die Herren nur an ihr Haus hinauf¬
ſpielten, rief ſie: »Bei Maria's Huͤlf und from¬
mer Fuͤrbitte! Wir haben ein Staͤndchen! Wir
haben ein Staͤndchen!« Sie zuͤndete ſogleich die
zwei roſenrothen Wachskerzen an, welche ſonſt
immer wie Altarleuchter vor ihrem Bildniſſe
ſtanden, und ſtellte dieſelben feierlich auf den
Tiſch, damit Jedermann an der hell erleuchteten
Stube ſehen ſollte, wem die Muſik gelte. Dann
zog ſie ihre Tochter, die ſie kurz vorher geſchol¬
ten hatte, freundlich zum Fenſter und Agnes ſah
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[4/0014] helle Mondlicht durchklang und in ihrer klaren Beſtimmtheit mit den ſcharfen Umriſſen der voll beleuchteten Gegenſtaͤnde wetteiferte. Agnes ſaß zuhinterſt in der matt erleuchteten Stube; die ſchoͤne Muſik toͤnte in ihren dumpfen Schmerz hinein, ſie erhob das ſchwere Koͤpfchen und lauſchte alſobald mit kindlich neugierigem Wohlbehagen den Toͤnen, ohne ſich zu wundern noch zu kuͤm¬ mern, woher ſie kaͤmen. Ihre Mutter dagegen eilte an's Fenſter, und ſobald ſie ſich uͤberzeugt hatte, daß die Herren nur an ihr Haus hinauf¬ ſpielten, rief ſie: »Bei Maria's Huͤlf und from¬ mer Fuͤrbitte! Wir haben ein Staͤndchen! Wir haben ein Staͤndchen!« Sie zuͤndete ſogleich die zwei roſenrothen Wachskerzen an, welche ſonſt immer wie Altarleuchter vor ihrem Bildniſſe ſtanden, und ſtellte dieſelben feierlich auf den Tiſch, damit Jedermann an der hell erleuchteten Stube ſehen ſollte, wem die Muſik gelte. Dann zog ſie ihre Tochter, die ſie kurz vorher geſchol¬ ten hatte, freundlich zum Fenſter und Agnes ſah laͤchelnd auf die freundlichen Muſiker nieder. Dieſe gingen nun in einen raſcheren Takt und

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/14>, abgerufen am 29.03.2024.