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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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Dreizehntes Kapitel.

Blüh' auf, gefrorner Christ! Der Mai ist vor der Thür:
Du bleibest ewig todt, blühst du nicht jetzt und hier!

So klang es die ganze Nacht in Heinrich's
Ohren, der kein Auge schloß. Ein lauer Süd¬
wind wehte über das Land, der Schnee schmolz
an seinem Hauche und tropfte unablässig von
allen Bäumen im Garten und von den Dächern,
so daß das melodische Fallen der unzähligen Tro¬
pfen eine Frühlingsmusik machte zu dem, was in
dem Wachenden vorging. Noch gestern hatte er
geglaubt, mit seiner jetzigen verschwiegenen Ver¬
liebtheit hoch über Allem zu stehen, was er je
über Liebe gedacht und empfunden, und nun
mußte er erfahren, daß er gestern noch keine Ah¬

Dreizehntes Kapitel.

Bluͤh' auf, gefrorner Chriſt! Der Mai iſt vor der Thuͤr:
Du bleibeſt ewig todt, bluͤhſt du nicht jetzt und hier!

So klang es die ganze Nacht in Heinrich's
Ohren, der kein Auge ſchloß. Ein lauer Suͤd¬
wind wehte uͤber das Land, der Schnee ſchmolz
an ſeinem Hauche und tropfte unablaͤſſig von
allen Baͤumen im Garten und von den Daͤchern,
ſo daß das melodiſche Fallen der unzaͤhligen Tro¬
pfen eine Fruͤhlingsmuſik machte zu dem, was in
dem Wachenden vorging. Noch geſtern hatte er
geglaubt, mit ſeiner jetzigen verſchwiegenen Ver¬
liebtheit hoch uͤber Allem zu ſtehen, was er je
uͤber Liebe gedacht und empfunden, und nun
mußte er erfahren, daß er geſtern noch keine Ah¬

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[0408] Dreizehntes Kapitel. Bluͤh' auf, gefrorner Chriſt! Der Mai iſt vor der Thuͤr: Du bleibeſt ewig todt, bluͤhſt du nicht jetzt und hier! So klang es die ganze Nacht in Heinrich's Ohren, der kein Auge ſchloß. Ein lauer Suͤd¬ wind wehte uͤber das Land, der Schnee ſchmolz an ſeinem Hauche und tropfte unablaͤſſig von allen Baͤumen im Garten und von den Daͤchern, ſo daß das melodiſche Fallen der unzaͤhligen Tro¬ pfen eine Fruͤhlingsmuſik machte zu dem, was in dem Wachenden vorging. Noch geſtern hatte er geglaubt, mit ſeiner jetzigen verſchwiegenen Ver¬ liebtheit hoch uͤber Allem zu ſtehen, was er je uͤber Liebe gedacht und empfunden, und nun mußte er erfahren, daß er geſtern noch keine Ah¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/408>, abgerufen am 29.03.2024.