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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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kleidern, und dazu noch in ihren besten, ausge¬
zogen sei, überfiel sie erst ein großer Zorn,
dann aber eine noch größere Unruhe; denn nichts
schien ihr geeigneter einen jungen Menschen in
das Lotterleben zu bringen, als wenn er in
Weiberkleidern auf eine Seldwyler Hochzeit ging.
Sie ließ daher ihr Abendessen ungenossen stehen
und ging eine Stunde lang in der größten Un¬
ruhe umher, nicht wissend, wie sie ihren Sohn
den drohenden Gefahren entreißen solle. Es
widerstrebte ihr, ihn kurzweg abrufen zu lassen
und dadurch zu beschämen; auch fürchtete sie
nicht mit Unrecht, daß er würde zurückgehalten
werden oder aus eigenem Willen nicht kommen
dürfte. Und dennoch fühlte sie wohl, wie er
durch diese einzige Nacht auf eine entscheidende
Weise auf die schlechte Seite verschlagen werden
könne. Sie entschloß sich endlich kurz, da es
ihr nicht Ruhe ließ, ihren Sohn selbst wegzu¬
holen, und da sie mannichfacher Beziehungen
wegen einen halben Vorwand hatte, selbst etwa
ein Stündchen auf der Hochzeit zu erscheinen,
kleidete sie sich rasch um und wählte einen Anzug,
ein wenig besser als der alltägliche und doch

kleidern, und dazu noch in ihren beſten, ausge¬
zogen ſei, überfiel ſie erſt ein großer Zorn,
dann aber eine noch größere Unruhe; denn nichts
ſchien ihr geeigneter einen jungen Menſchen in
das Lotterleben zu bringen, als wenn er in
Weiberkleidern auf eine Seldwyler Hochzeit ging.
Sie ließ daher ihr Abendeſſen ungenoſſen ſtehen
und ging eine Stunde lang in der größten Un¬
ruhe umher, nicht wiſſend, wie ſie ihren Sohn
den drohenden Gefahren entreißen ſolle. Es
widerſtrebte ihr, ihn kurzweg abrufen zu laſſen
und dadurch zu beſchämen; auch fürchtete ſie
nicht mit Unrecht, daß er würde zurückgehalten
werden oder aus eigenem Willen nicht kommen
dürfte. Und dennoch fühlte ſie wohl, wie er
durch dieſe einzige Nacht auf eine entſcheidende
Weiſe auf die ſchlechte Seite verſchlagen werden
könne. Sie entſchloß ſich endlich kurz, da es
ihr nicht Ruhe ließ, ihren Sohn ſelbſt wegzu¬
holen, und da ſie mannichfacher Beziehungen
wegen einen halben Vorwand hatte, ſelbſt etwa
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[142/0154] kleidern, und dazu noch in ihren beſten, ausge¬ zogen ſei, überfiel ſie erſt ein großer Zorn, dann aber eine noch größere Unruhe; denn nichts ſchien ihr geeigneter einen jungen Menſchen in das Lotterleben zu bringen, als wenn er in Weiberkleidern auf eine Seldwyler Hochzeit ging. Sie ließ daher ihr Abendeſſen ungenoſſen ſtehen und ging eine Stunde lang in der größten Un¬ ruhe umher, nicht wiſſend, wie ſie ihren Sohn den drohenden Gefahren entreißen ſolle. Es widerſtrebte ihr, ihn kurzweg abrufen zu laſſen und dadurch zu beſchämen; auch fürchtete ſie nicht mit Unrecht, daß er würde zurückgehalten werden oder aus eigenem Willen nicht kommen dürfte. Und dennoch fühlte ſie wohl, wie er durch dieſe einzige Nacht auf eine entſcheidende Weiſe auf die ſchlechte Seite verſchlagen werden könne. Sie entſchloß ſich endlich kurz, da es ihr nicht Ruhe ließ, ihren Sohn ſelbſt wegzu¬ holen, und da ſie mannichfacher Beziehungen wegen einen halben Vorwand hatte, ſelbſt etwa ein Stündchen auf der Hochzeit zu erſcheinen, kleidete ſie ſich raſch um und wählte einen Anzug, ein wenig beſſer als der alltägliche und doch

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/154>, abgerufen am 19.04.2024.