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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Romeo und Julia auf dem Dorfe.

Auch diese Geschichte zu erzählen, würde
eine müssige Erfindung sein, wenn sie nicht auf
einem wahren Vorfall beruhte, zum Beweise,
wie tief im Menschenleben jede der schönen Fa¬
beln wurzelt, auf welche ein großes Dichterwerk
gegründet ist. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig,
gleich der Zahl der Metalle, aber sie ereignen
sich immer wieder auf's Neue mit veränderten
Umständen und in der wunderlichsten Verkleidung.

An dem schönen Flusse, der eine halbe
Stunde entfernt an Seldwyl vorüberzieht, erhebt
sich eine weitgedehnte Erdwelle und verliert sich,
selber wohlbebaut, in der fruchtbaren Ebene.
Fern an ihrem Fuße liegt ein Dorf, welches
manche große Bauernhöfe enthält und über die
sanfte Anhöhe lagen vor Jahren drei prächtige

Keller, die Leute von Seldwyla. 14
Romeo und Julia auf dem Dorfe.

Auch dieſe Geſchichte zu erzählen, würde
eine müſſige Erfindung ſein, wenn ſie nicht auf
einem wahren Vorfall beruhte, zum Beweiſe,
wie tief im Menſchenleben jede der ſchönen Fa¬
beln wurzelt, auf welche ein großes Dichterwerk
gegründet iſt. Die Zahl ſolcher Fabeln iſt mäßig,
gleich der Zahl der Metalle, aber ſie ereignen
ſich immer wieder auf's Neue mit veränderten
Umſtänden und in der wunderlichſten Verkleidung.

An dem ſchönen Fluſſe, der eine halbe
Stunde entfernt an Seldwyl vorüberzieht, erhebt
ſich eine weitgedehnte Erdwelle und verliert ſich,
ſelber wohlbebaut, in der fruchtbaren Ebene.
Fern an ihrem Fuße liegt ein Dorf, welches
manche große Bauernhöfe enthält und über die
ſanfte Anhöhe lagen vor Jahren drei prächtige

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[209/0221] Romeo und Julia auf dem Dorfe. Auch dieſe Geſchichte zu erzählen, würde eine müſſige Erfindung ſein, wenn ſie nicht auf einem wahren Vorfall beruhte, zum Beweiſe, wie tief im Menſchenleben jede der ſchönen Fa¬ beln wurzelt, auf welche ein großes Dichterwerk gegründet iſt. Die Zahl ſolcher Fabeln iſt mäßig, gleich der Zahl der Metalle, aber ſie ereignen ſich immer wieder auf's Neue mit veränderten Umſtänden und in der wunderlichſten Verkleidung. An dem ſchönen Fluſſe, der eine halbe Stunde entfernt an Seldwyl vorüberzieht, erhebt ſich eine weitgedehnte Erdwelle und verliert ſich, ſelber wohlbebaut, in der fruchtbaren Ebene. Fern an ihrem Fuße liegt ein Dorf, welches manche große Bauernhöfe enthält und über die ſanfte Anhöhe lagen vor Jahren drei prächtige Keller, die Leute von Seldwyla. 14

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/221>, abgerufen am 29.03.2024.