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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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geognostischen Karten, Mineralien und hölzernen Feld¬
spathmodellen; Schichten gelehrter Jahrbücher in allen
Sprachen belasteten Stühle und Divans, und auf den
Spiegeltischchen glänzten physikalische Instrumente in
blankem Messing. Kein ausgestopftes Monstrum hing an
räucherigem Gewölbe, sondern bescheiden hockte ein lebendi¬
ger Frosch in einem Glase und harrte seines Stündleins,
und selbst das übliche Menschengerippe in der dunkeln
Ecke fehlte, wogegen eine Reihe von Menschen- und Thier¬
schädeln so weiß und appetitlich aussah, daß sie eher den
Nippsachen eines Stutzers glichen, als dem unheimlichen
Hokuspokus eines alten Laboranten. Statt bestaubter
Herbarien sah man einige feine Bogen mit Zeichnungen
von Pflanzengeweben, statt schweinslederner Folianten
englische Prachtwerke in gepreßter Leinwand.

Wo man ein Buch oder Heft aufschlug, erblickte man
nur den lateinischen Gelehrtendruck, Zahlensäulen und
Logarithmen. Kein einziges Buch handelte von mensch¬
lichen oder moralischen Dingen, oder, wie man vor hundert
Jahren gesagt haben würde, von Sachen des Herzens und
des schönen Geschmackes.

So wollte also Reinhart sich wieder an eine stille,
subtile Arbeit begeben, die er schon seit Wochen betrieb.
In der Mitte des Zimmers stand ein sinnreicher Apparat,
allwo ein Sonnenstrahl eingefangen und durch einen
Kristallkörper geleitet wurde, um sein Verhalten in dem¬
selben zu zeigen und womöglich das innerste Geheimniß

geognoſtiſchen Karten, Mineralien und hölzernen Feld¬
ſpathmodellen; Schichten gelehrter Jahrbücher in allen
Sprachen belaſteten Stühle und Divans, und auf den
Spiegeltiſchchen glänzten phyſikaliſche Inſtrumente in
blankem Meſſing. Kein ausgeſtopftes Monſtrum hing an
räucherigem Gewölbe, ſondern beſcheiden hockte ein lebendi¬
ger Froſch in einem Glaſe und harrte ſeines Stündleins,
und ſelbſt das übliche Menſchengerippe in der dunkeln
Ecke fehlte, wogegen eine Reihe von Menſchen- und Thier¬
ſchädeln ſo weiß und appetitlich ausſah, daß ſie eher den
Nippſachen eines Stutzers glichen, als dem unheimlichen
Hokuspokus eines alten Laboranten. Statt beſtaubter
Herbarien ſah man einige feine Bogen mit Zeichnungen
von Pflanzengeweben, ſtatt ſchweinslederner Folianten
engliſche Prachtwerke in gepreßter Leinwand.

Wo man ein Buch oder Heft aufſchlug, erblickte man
nur den lateiniſchen Gelehrtendruck, Zahlenſäulen und
Logarithmen. Kein einziges Buch handelte von menſch¬
lichen oder moraliſchen Dingen, oder, wie man vor hundert
Jahren geſagt haben würde, von Sachen des Herzens und
des ſchönen Geſchmackes.

So wollte alſo Reinhart ſich wieder an eine ſtille,
ſubtile Arbeit begeben, die er ſchon ſeit Wochen betrieb.
In der Mitte des Zimmers ſtand ein ſinnreicher Apparat,
allwo ein Sonnenſtrahl eingefangen und durch einen
Kriſtallkörper geleitet wurde, um ſein Verhalten in dem¬
ſelben zu zeigen und womöglich das innerſte Geheimniß

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[4/0014] geognoſtiſchen Karten, Mineralien und hölzernen Feld¬ ſpathmodellen; Schichten gelehrter Jahrbücher in allen Sprachen belaſteten Stühle und Divans, und auf den Spiegeltiſchchen glänzten phyſikaliſche Inſtrumente in blankem Meſſing. Kein ausgeſtopftes Monſtrum hing an räucherigem Gewölbe, ſondern beſcheiden hockte ein lebendi¬ ger Froſch in einem Glaſe und harrte ſeines Stündleins, und ſelbſt das übliche Menſchengerippe in der dunkeln Ecke fehlte, wogegen eine Reihe von Menſchen- und Thier¬ ſchädeln ſo weiß und appetitlich ausſah, daß ſie eher den Nippſachen eines Stutzers glichen, als dem unheimlichen Hokuspokus eines alten Laboranten. Statt beſtaubter Herbarien ſah man einige feine Bogen mit Zeichnungen von Pflanzengeweben, ſtatt ſchweinslederner Folianten engliſche Prachtwerke in gepreßter Leinwand. Wo man ein Buch oder Heft aufſchlug, erblickte man nur den lateiniſchen Gelehrtendruck, Zahlenſäulen und Logarithmen. Kein einziges Buch handelte von menſch¬ lichen oder moraliſchen Dingen, oder, wie man vor hundert Jahren geſagt haben würde, von Sachen des Herzens und des ſchönen Geſchmackes. So wollte alſo Reinhart ſich wieder an eine ſtille, ſubtile Arbeit begeben, die er ſchon ſeit Wochen betrieb. In der Mitte des Zimmers ſtand ein ſinnreicher Apparat, allwo ein Sonnenſtrahl eingefangen und durch einen Kriſtallkörper geleitet wurde, um ſein Verhalten in dem¬ ſelben zu zeigen und womöglich das innerſte Geheimniß

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/14>, abgerufen am 25.04.2024.