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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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wenn Leute übersetzten. Jetzt ist er ein großer Baumeister
geworden und will mich nicht mehr kennen; er schämt sich
aber vor mir, die ich hübsch bin, weil er immer eine
buckelige, einäugige Frau im Wagen neben sich hat."

"Warum hat er, der so schöne Werke erfindet, eine
so häßliche Frau?"

"Weil sie die Tochter eines Rathsmannes ist, der ihm
den Brückenbau verschaffen konnte, durch den er groß und
berühmt geworden. Jener sagte, er müsse seine Tochter
heirathen, sonst solle er die Brücke nicht bauen."

"Und da hat er es gethan?"

"Ja, ohne sich zu besinnen; seitdem muß ich lachen,
wenn er über die Brücke fährt; denn er macht eine sehr
traurige Figur neben seiner Buckligen, während er nichts
als schlanke Pfeiler und hohe Kirchthürme im Kopfe hat."

"Woher weißt Du aber, daß er in Dich verliebt ist?"

"Weil er immer wieder vorüberkommt, auch wenn er
einen Umweg machen muß, und dann mich doch nicht
ansieht!"

"Habt Ihr denn nicht ein wenig Mitleid mit ihm,
oder seid Ihr am Ende nicht auch in ihn verliebt?"

"Dann würde ich Euch nichts erzählen! Einer, der
eine Frau nimmt, die ihm nicht gefällt, und dann Andere
gern sieht, die er doch nicht anzuschauen wagt, ist ein
Wicht, bei dem nicht viel zu holen ist, meint Ihr nicht?"

"Sicherlich! Und um so mehr, als dieser also recht
gut weiß, was schön ist; denn je länger ich Euch und

wenn Leute überſetzten. Jetzt iſt er ein großer Baumeiſter
geworden und will mich nicht mehr kennen; er ſchämt ſich
aber vor mir, die ich hübſch bin, weil er immer eine
buckelige, einäugige Frau im Wagen neben ſich hat.“

„Warum hat er, der ſo ſchöne Werke erfindet, eine
ſo häßliche Frau?“

„Weil ſie die Tochter eines Rathsmannes iſt, der ihm
den Brückenbau verſchaffen konnte, durch den er groß und
berühmt geworden. Jener ſagte, er müſſe ſeine Tochter
heirathen, ſonſt ſolle er die Brücke nicht bauen.“

„Und da hat er es gethan?“

„Ja, ohne ſich zu beſinnen; ſeitdem muß ich lachen,
wenn er über die Brücke fährt; denn er macht eine ſehr
traurige Figur neben ſeiner Buckligen, während er nichts
als ſchlanke Pfeiler und hohe Kirchthürme im Kopfe hat.“

„Woher weißt Du aber, daß er in Dich verliebt iſt?“

„Weil er immer wieder vorüberkommt, auch wenn er
einen Umweg machen muß, und dann mich doch nicht
anſieht!“

„Habt Ihr denn nicht ein wenig Mitleid mit ihm,
oder ſeid Ihr am Ende nicht auch in ihn verliebt?“

„Dann würde ich Euch nichts erzählen! Einer, der
eine Frau nimmt, die ihm nicht gefällt, und dann Andere
gern ſieht, die er doch nicht anzuſchauen wagt, iſt ein
Wicht, bei dem nicht viel zu holen iſt, meint Ihr nicht?“

„Sicherlich! Und um ſo mehr, als dieſer alſo recht
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[12/0022] wenn Leute überſetzten. Jetzt iſt er ein großer Baumeiſter geworden und will mich nicht mehr kennen; er ſchämt ſich aber vor mir, die ich hübſch bin, weil er immer eine buckelige, einäugige Frau im Wagen neben ſich hat.“ „Warum hat er, der ſo ſchöne Werke erfindet, eine ſo häßliche Frau?“ „Weil ſie die Tochter eines Rathsmannes iſt, der ihm den Brückenbau verſchaffen konnte, durch den er groß und berühmt geworden. Jener ſagte, er müſſe ſeine Tochter heirathen, ſonſt ſolle er die Brücke nicht bauen.“ „Und da hat er es gethan?“ „Ja, ohne ſich zu beſinnen; ſeitdem muß ich lachen, wenn er über die Brücke fährt; denn er macht eine ſehr traurige Figur neben ſeiner Buckligen, während er nichts als ſchlanke Pfeiler und hohe Kirchthürme im Kopfe hat.“ „Woher weißt Du aber, daß er in Dich verliebt iſt?“ „Weil er immer wieder vorüberkommt, auch wenn er einen Umweg machen muß, und dann mich doch nicht anſieht!“ „Habt Ihr denn nicht ein wenig Mitleid mit ihm, oder ſeid Ihr am Ende nicht auch in ihn verliebt?“ „Dann würde ich Euch nichts erzählen! Einer, der eine Frau nimmt, die ihm nicht gefällt, und dann Andere gern ſieht, die er doch nicht anzuſchauen wagt, iſt ein Wicht, bei dem nicht viel zu holen iſt, meint Ihr nicht?“ „Sicherlich! Und um ſo mehr, als dieſer alſo recht gut weiß, was ſchön iſt; denn je länger ich Euch und

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/22>, abgerufen am 29.03.2024.