nach ein Bild irdischen Glückes ab; denn so jung, so schön und so hübsch gekleidet, wie beide waren, als Brautleute, denen ein langes sorgloses Leben lachte, der lieblichsten Muße genießend in einem stillen Empfangssaale, den sie zur Ruhe gewählt, schien ihnen nichts zu fehlen, um sich im Paradiese glauben zu können. Sie waren über ihrem Kosen sänftlich eingeschlafen und erwachten jetzt wieder, gemächlich Eines nach dem Andern; der Bräutigam gähnte ein Weniges, mit Maß, und hielt die Hand vor; die Braut aber, als sie ihn gähnen sah, sperrte, unwider¬ stehlich gereizt, den Mund auf soweit sie konnte und wie sie es auf dem Lande zu thun pflegte, wenn keine Fremden da waren, und begleitete diese Mundaufsperrung mit jenem trost-, hoffnungs- und rücksichtslosen Weltuntergangsseufzer oder Gestöhne, womit manche Leute, in der behaglichsten Meinung von der Welt, die gesundesten Nerven zu er¬ schüttern und die frohsten Gemüther einzuschüchtern ver¬ stehen.
Sie müssen sich nicht wundern, unterbrach sich Lucie, daß ich diese Einzelheiten so genau kenne: ich habe sie sattsam von beiden Seiten erzählen hören, und es scheint außerdem, daß jenes unglückliche Gähnduett gleich einem unwillkürlichen, verhängnißvollen Bekenntnisse die Wen¬ dung herbeiführte. Wenigstens verweilten Beide wiederholt bei diesem merkwürdigen Punkte. Der Bräutigam wurde auf einmal ganz verdrießlich und rief: "O Gott im Himmel! Ist das nun alles, was Du zu erzählen weißt?"
nach ein Bild irdiſchen Glückes ab; denn ſo jung, ſo ſchön und ſo hübſch gekleidet, wie beide waren, als Brautleute, denen ein langes ſorgloſes Leben lachte, der lieblichſten Muße genießend in einem ſtillen Empfangsſaale, den ſie zur Ruhe gewählt, ſchien ihnen nichts zu fehlen, um ſich im Paradieſe glauben zu können. Sie waren über ihrem Koſen ſänftlich eingeſchlafen und erwachten jetzt wieder, gemächlich Eines nach dem Andern; der Bräutigam gähnte ein Weniges, mit Maß, und hielt die Hand vor; die Braut aber, als ſie ihn gähnen ſah, ſperrte, unwider¬ ſtehlich gereizt, den Mund auf ſoweit ſie konnte und wie ſie es auf dem Lande zu thun pflegte, wenn keine Fremden da waren, und begleitete dieſe Mundaufſperrung mit jenem troſt-, hoffnungs- und rückſichtsloſen Weltuntergangsſeufzer oder Geſtöhne, womit manche Leute, in der behaglichſten Meinung von der Welt, die geſundeſten Nerven zu er¬ ſchüttern und die frohſten Gemüther einzuſchüchtern ver¬ ſtehen.
Sie müſſen ſich nicht wundern, unterbrach ſich Lucie, daß ich dieſe Einzelheiten ſo genau kenne: ich habe ſie ſattſam von beiden Seiten erzählen hören, und es ſcheint außerdem, daß jenes unglückliche Gähnduett gleich einem unwillkürlichen, verhängnißvollen Bekenntniſſe die Wen¬ dung herbeiführte. Wenigſtens verweilten Beide wiederholt bei dieſem merkwürdigen Punkte. Der Bräutigam wurde auf einmal ganz verdrießlich und rief: „O Gott im Himmel! Iſt das nun alles, was Du zu erzählen weißt?“
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0068"n="58"/>
nach ein Bild irdiſchen Glückes ab; denn ſo jung, ſo ſchön<lb/>
und ſo hübſch gekleidet, wie beide waren, als Brautleute,<lb/>
denen ein langes ſorgloſes Leben lachte, der lieblichſten<lb/>
Muße genießend in einem ſtillen Empfangsſaale, den ſie<lb/>
zur Ruhe gewählt, ſchien ihnen nichts zu fehlen, um ſich<lb/>
im Paradieſe glauben zu können. Sie waren über ihrem<lb/>
Koſen ſänftlich eingeſchlafen und erwachten jetzt wieder,<lb/>
gemächlich Eines nach dem Andern; der Bräutigam gähnte<lb/>
ein Weniges, mit Maß, und hielt die Hand vor; die<lb/>
Braut aber, als ſie ihn gähnen ſah, ſperrte, unwider¬<lb/>ſtehlich gereizt, den Mund auf ſoweit ſie konnte und wie<lb/>ſie es auf dem Lande zu thun pflegte, wenn keine Fremden<lb/>
da waren, und begleitete dieſe Mundaufſperrung mit jenem<lb/>
troſt-, hoffnungs- und rückſichtsloſen Weltuntergangsſeufzer<lb/>
oder Geſtöhne, womit manche Leute, in der behaglichſten<lb/>
Meinung von der Welt, die geſundeſten Nerven zu er¬<lb/>ſchüttern und die frohſten Gemüther einzuſchüchtern ver¬<lb/>ſtehen.</p><lb/><p>Sie müſſen ſich nicht wundern, unterbrach ſich Lucie,<lb/>
daß ich dieſe Einzelheiten ſo genau kenne: ich habe ſie<lb/>ſattſam von beiden Seiten erzählen hören, und es ſcheint<lb/>
außerdem, daß jenes unglückliche Gähnduett gleich einem<lb/>
unwillkürlichen, verhängnißvollen Bekenntniſſe die Wen¬<lb/>
dung herbeiführte. Wenigſtens verweilten Beide wiederholt<lb/>
bei dieſem merkwürdigen Punkte. Der Bräutigam wurde<lb/>
auf einmal ganz verdrießlich und rief: „O Gott im Himmel!<lb/>
Iſt das nun alles, was Du zu erzählen weißt?“<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[58/0068]
nach ein Bild irdiſchen Glückes ab; denn ſo jung, ſo ſchön
und ſo hübſch gekleidet, wie beide waren, als Brautleute,
denen ein langes ſorgloſes Leben lachte, der lieblichſten
Muße genießend in einem ſtillen Empfangsſaale, den ſie
zur Ruhe gewählt, ſchien ihnen nichts zu fehlen, um ſich
im Paradieſe glauben zu können. Sie waren über ihrem
Koſen ſänftlich eingeſchlafen und erwachten jetzt wieder,
gemächlich Eines nach dem Andern; der Bräutigam gähnte
ein Weniges, mit Maß, und hielt die Hand vor; die
Braut aber, als ſie ihn gähnen ſah, ſperrte, unwider¬
ſtehlich gereizt, den Mund auf ſoweit ſie konnte und wie
ſie es auf dem Lande zu thun pflegte, wenn keine Fremden
da waren, und begleitete dieſe Mundaufſperrung mit jenem
troſt-, hoffnungs- und rückſichtsloſen Weltuntergangsſeufzer
oder Geſtöhne, womit manche Leute, in der behaglichſten
Meinung von der Welt, die geſundeſten Nerven zu er¬
ſchüttern und die frohſten Gemüther einzuſchüchtern ver¬
ſtehen.
Sie müſſen ſich nicht wundern, unterbrach ſich Lucie,
daß ich dieſe Einzelheiten ſo genau kenne: ich habe ſie
ſattſam von beiden Seiten erzählen hören, und es ſcheint
außerdem, daß jenes unglückliche Gähnduett gleich einem
unwillkürlichen, verhängnißvollen Bekenntniſſe die Wen¬
dung herbeiführte. Wenigſtens verweilten Beide wiederholt
bei dieſem merkwürdigen Punkte. Der Bräutigam wurde
auf einmal ganz verdrießlich und rief: „O Gott im Himmel!
Iſt das nun alles, was Du zu erzählen weißt?“
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/68>, abgerufen am 15.10.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.