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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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die Thorheit zu empfinden, mit der er selbst heute aus¬
gezogen war. Solchen Angriff von sich abzuwehren, schritt
er zum Widerspruche und sogar zu einer Art Schutzrede
für die verunglückte Salome, indem er begann:

"Die stolze Resignation, zu welcher sie so unerwartet
gelangte, scheint mir fast zu beweisen, daß auch Vorzüge,
die nur in der Einbildung vorhanden sind, wenn sie
beleidigt oder in Frage gestellt werden, die gleiche Wir¬
kung zu thun vermögen, wie wirklich vorhandene Tugen¬
den, so daß z. B. die Thorheit, wenn ihre eingebildete
Klugheit angegriffen wird, in ihrem Schmerze darüber
zuletzt wahrhaft weise und zurückhaltend werden kann.
Uebrigens ist es doch schade, daß die arme Schöne nicht
einen Mann hat!"

"Sie ist nun zwischen Stuhl und Bank gefallen,"
erwiderte Lucia; "denn mit den Herren war es nichts
und mit den Bauern geht es auch nicht mehr, und doch
hätte sie einen Mann ihres Standes sogar noch beglücken
können, der bei gleichen Geisteskräften und täglicher harter
Arbeit ihrer Unklugheit nicht so inne geworden wäre und
vielleicht ein köstliches Kleinod in ihr gefunden hätte."

"Gewiß," sagte Reinhart, "mußte es irgend einen
Mann für sie geben, dem sie selbst mit ihren Fehlern
werth war; doch scheint mir die Gleichheit des Standes
und des Geistes nicht gerade das Unentbehrlichste zu sein.
Eher glaube ich, daß ein derartiges Wesen sich noch am
vortheilhaftesten in der Nähe eines ihm wirklich über¬

die Thorheit zu empfinden, mit der er ſelbſt heute aus¬
gezogen war. Solchen Angriff von ſich abzuwehren, ſchritt
er zum Widerſpruche und ſogar zu einer Art Schutzrede
für die verunglückte Salome, indem er begann:

„Die ſtolze Reſignation, zu welcher ſie ſo unerwartet
gelangte, ſcheint mir faſt zu beweiſen, daß auch Vorzüge,
die nur in der Einbildung vorhanden ſind, wenn ſie
beleidigt oder in Frage geſtellt werden, die gleiche Wir¬
kung zu thun vermögen, wie wirklich vorhandene Tugen¬
den, ſo daß z. B. die Thorheit, wenn ihre eingebildete
Klugheit angegriffen wird, in ihrem Schmerze darüber
zuletzt wahrhaft weiſe und zurückhaltend werden kann.
Uebrigens iſt es doch ſchade, daß die arme Schöne nicht
einen Mann hat!“

„Sie iſt nun zwiſchen Stuhl und Bank gefallen,“
erwiderte Lucia; „denn mit den Herren war es nichts
und mit den Bauern geht es auch nicht mehr, und doch
hätte ſie einen Mann ihres Standes ſogar noch beglücken
können, der bei gleichen Geiſteskräften und täglicher harter
Arbeit ihrer Unklugheit nicht ſo inne geworden wäre und
vielleicht ein köſtliches Kleinod in ihr gefunden hätte.“

„Gewiß,“ ſagte Reinhart, „mußte es irgend einen
Mann für ſie geben, dem ſie ſelbſt mit ihren Fehlern
werth war; doch ſcheint mir die Gleichheit des Standes
und des Geiſtes nicht gerade das Unentbehrlichſte zu ſein.
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[63/0073] die Thorheit zu empfinden, mit der er ſelbſt heute aus¬ gezogen war. Solchen Angriff von ſich abzuwehren, ſchritt er zum Widerſpruche und ſogar zu einer Art Schutzrede für die verunglückte Salome, indem er begann: „Die ſtolze Reſignation, zu welcher ſie ſo unerwartet gelangte, ſcheint mir faſt zu beweiſen, daß auch Vorzüge, die nur in der Einbildung vorhanden ſind, wenn ſie beleidigt oder in Frage geſtellt werden, die gleiche Wir¬ kung zu thun vermögen, wie wirklich vorhandene Tugen¬ den, ſo daß z. B. die Thorheit, wenn ihre eingebildete Klugheit angegriffen wird, in ihrem Schmerze darüber zuletzt wahrhaft weiſe und zurückhaltend werden kann. Uebrigens iſt es doch ſchade, daß die arme Schöne nicht einen Mann hat!“ „Sie iſt nun zwiſchen Stuhl und Bank gefallen,“ erwiderte Lucia; „denn mit den Herren war es nichts und mit den Bauern geht es auch nicht mehr, und doch hätte ſie einen Mann ihres Standes ſogar noch beglücken können, der bei gleichen Geiſteskräften und täglicher harter Arbeit ihrer Unklugheit nicht ſo inne geworden wäre und vielleicht ein köſtliches Kleinod in ihr gefunden hätte.“ „Gewiß,“ ſagte Reinhart, „mußte es irgend einen Mann für ſie geben, dem ſie ſelbſt mit ihren Fehlern werth war; doch ſcheint mir die Gleichheit des Standes und des Geiſtes nicht gerade das Unentbehrlichſte zu ſein. Eher glaube ich, daß ein derartiges Weſen ſich noch am vortheilhafteſten in der Nähe eines ihm wirklich über¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/73>, abgerufen am 25.04.2024.