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Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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die leere Luft hinaus. Nikola riß sich in Verzweiflung von ihrem schauerlichen Anblick los, drückte noch einen Kuß auf ihre Stirn und hörte auf der Treppe einen lauten Jammerschrei, den sie ihm nachsandte.

Margrets Krankheit dauerte bei ihrer kräftigen Jugend nicht lange, nach wenigen Wochen konnte sie schon wieder die freie Luft ertragen. Man hatte ihr anfangs Nikola's Abreise verborgen, und ihr eignes Unglück entschwand ihrem Bewußtsein vor der Schwäche ihres Gehirns. Nun aber, wie sie wieder auf dem Stuhle vors Haus getragen wurde, wie sie über die Nachbardächer im Glanz der warmen Herbstsonne den bräunlichen Wald und durchs fallende Laub das Mooshüttchen vorscheinen sah - da legte sich auch die Erinnerung wieder wie eine Centnerlast auf ihr armes Herz. Und als sie nun endlich doch erfahren mußte, daß Nikola nicht ihr Mann vor der Welt geworden sei, ehe er abreiste, als sie nun ihre Schmach nahe und näher herankommen sah, da gingen fürchterliche Gedanken und Rathschläge durch ihre Seele.

Aber es kam ihrem besseren Gewissen der Doktor zu Hülfe, als er der Genesenden den letzten Besuch machte; er wollte sein Wort halten, das er dem Nikola gegeben hatte. Schonend lockte er ein Bekenntniß von Margret heraus, dessen Inhalt er längst wußte, und bewog sie, um ihrer Seele Ruhe wieder zu geben, gleich in den nächsten Tagen auch dem Pfarrer ihre Beichte abzulegen. Der Letztere übernahm es, der Familie das Geheimniß zu eröffnen.

die leere Luft hinaus. Nikola riß sich in Verzweiflung von ihrem schauerlichen Anblick los, drückte noch einen Kuß auf ihre Stirn und hörte auf der Treppe einen lauten Jammerschrei, den sie ihm nachsandte.

Margrets Krankheit dauerte bei ihrer kräftigen Jugend nicht lange, nach wenigen Wochen konnte sie schon wieder die freie Luft ertragen. Man hatte ihr anfangs Nikola's Abreise verborgen, und ihr eignes Unglück entschwand ihrem Bewußtsein vor der Schwäche ihres Gehirns. Nun aber, wie sie wieder auf dem Stuhle vors Haus getragen wurde, wie sie über die Nachbardächer im Glanz der warmen Herbstsonne den bräunlichen Wald und durchs fallende Laub das Mooshüttchen vorscheinen sah - da legte sich auch die Erinnerung wieder wie eine Centnerlast auf ihr armes Herz. Und als sie nun endlich doch erfahren mußte, daß Nikola nicht ihr Mann vor der Welt geworden sei, ehe er abreiste, als sie nun ihre Schmach nahe und näher herankommen sah, da gingen fürchterliche Gedanken und Rathschläge durch ihre Seele.

Aber es kam ihrem besseren Gewissen der Doktor zu Hülfe, als er der Genesenden den letzten Besuch machte; er wollte sein Wort halten, das er dem Nikola gegeben hatte. Schonend lockte er ein Bekenntniß von Margret heraus, dessen Inhalt er längst wußte, und bewog sie, um ihrer Seele Ruhe wieder zu geben, gleich in den nächsten Tagen auch dem Pfarrer ihre Beichte abzulegen. Der Letztere übernahm es, der Familie das Geheimniß zu eröffnen.

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[0035] die leere Luft hinaus. Nikola riß sich in Verzweiflung von ihrem schauerlichen Anblick los, drückte noch einen Kuß auf ihre Stirn und hörte auf der Treppe einen lauten Jammerschrei, den sie ihm nachsandte. Margrets Krankheit dauerte bei ihrer kräftigen Jugend nicht lange, nach wenigen Wochen konnte sie schon wieder die freie Luft ertragen. Man hatte ihr anfangs Nikola's Abreise verborgen, und ihr eignes Unglück entschwand ihrem Bewußtsein vor der Schwäche ihres Gehirns. Nun aber, wie sie wieder auf dem Stuhle vors Haus getragen wurde, wie sie über die Nachbardächer im Glanz der warmen Herbstsonne den bräunlichen Wald und durchs fallende Laub das Mooshüttchen vorscheinen sah - da legte sich auch die Erinnerung wieder wie eine Centnerlast auf ihr armes Herz. Und als sie nun endlich doch erfahren mußte, daß Nikola nicht ihr Mann vor der Welt geworden sei, ehe er abreiste, als sie nun ihre Schmach nahe und näher herankommen sah, da gingen fürchterliche Gedanken und Rathschläge durch ihre Seele. Aber es kam ihrem besseren Gewissen der Doktor zu Hülfe, als er der Genesenden den letzten Besuch machte; er wollte sein Wort halten, das er dem Nikola gegeben hatte. Schonend lockte er ein Bekenntniß von Margret heraus, dessen Inhalt er längst wußte, und bewog sie, um ihrer Seele Ruhe wieder zu geben, gleich in den nächsten Tagen auch dem Pfarrer ihre Beichte abzulegen. Der Letztere übernahm es, der Familie das Geheimniß zu eröffnen.

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:40:10Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:40:10Z)

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Zitationshilfe: Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910/35>, abgerufen am 29.03.2024.