Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Klinger, Friedrich Maximilian: Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt. St. Petersburg, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

Böses und Gutes zu unterscheiden, wenn
die Leidenschaften die schwache Vernunft
überbrüllen, wie das tosende Meer die Stim-
me des Steuermanns, dessen Schiff gegen
die Klippen treibt? Wozu das Böse? Wa-
rum das Böse? Er wollte es so; kann der
Mensch den Saamen des Bösen aus der un-
geheuren Masse herausreißen, den er mit
Willen hineingelegt hat? Noch wüthender
hasse ich nun die Welt, den Menschen und
mich. Warum gab man mir, der zum Lei-
den gebohren ist, den Drang nach Glück?
Warum dem zur Finsterniß gebohrnen, den
Wunsch nach Licht? Warum dem Sclaven
den Durst nach Freyheit? Warum dem
Wurme das Verlangen zu fliegen? Wozu
eine unbeschränkte Einbildungskraft, die
immer gebährende Mutter kühner Begier-
den, verwegner Wünsche und Gedanken?
Zerschlage das Fleisch, das meine dunkle
zweifelvolle Seele umhüllt nimm ihr das
Erinnern, daß sie einen menschlichen Leib
zum Sünder gemacht hat, dann will ich ei-

ner

Boͤſes und Gutes zu unterſcheiden, wenn
die Leidenſchaften die ſchwache Vernunft
uͤberbruͤllen, wie das toſende Meer die Stim-
me des Steuermanns, deſſen Schiff gegen
die Klippen treibt? Wozu das Boͤſe? Wa-
rum das Boͤſe? Er wollte es ſo; kann der
Menſch den Saamen des Boͤſen aus der un-
geheuren Maſſe herausreißen, den er mit
Willen hineingelegt hat? Noch wuͤthender
haſſe ich nun die Welt, den Menſchen und
mich. Warum gab man mir, der zum Lei-
den gebohren iſt, den Drang nach Gluͤck?
Warum dem zur Finſterniß gebohrnen, den
Wunſch nach Licht? Warum dem Sclaven
den Durſt nach Freyheit? Warum dem
Wurme das Verlangen zu fliegen? Wozu
eine unbeſchraͤnkte Einbildungskraft, die
immer gebaͤhrende Mutter kuͤhner Begier-
den, verwegner Wuͤnſche und Gedanken?
Zerſchlage das Fleiſch, das meine dunkle
zweifelvolle Seele umhuͤllt nimm ihr das
Erinnern, daß ſie einen menſchlichen Leib
zum Suͤnder gemacht hat, dann will ich ei-

ner
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0409" n="398"/>
Bo&#x0364;&#x017F;es und Gutes zu unter&#x017F;cheiden, wenn<lb/>
die Leiden&#x017F;chaften die &#x017F;chwache Vernunft<lb/>
u&#x0364;berbru&#x0364;llen, wie das to&#x017F;ende Meer die Stim-<lb/>
me des Steuermanns, de&#x017F;&#x017F;en Schiff gegen<lb/>
die Klippen treibt? Wozu das Bo&#x0364;&#x017F;e? Wa-<lb/>
rum das Bo&#x0364;&#x017F;e? Er wollte es &#x017F;o; kann der<lb/>
Men&#x017F;ch den Saamen des Bo&#x0364;&#x017F;en aus der un-<lb/>
geheuren Ma&#x017F;&#x017F;e herausreißen, den er mit<lb/>
Willen hineingelegt hat? Noch wu&#x0364;thender<lb/>
ha&#x017F;&#x017F;e ich nun die Welt, den Men&#x017F;chen und<lb/>
mich. Warum gab man mir, der zum Lei-<lb/>
den gebohren i&#x017F;t, den Drang nach Glu&#x0364;ck?<lb/>
Warum dem zur Fin&#x017F;terniß gebohrnen, den<lb/>
Wun&#x017F;ch nach Licht? Warum dem Sclaven<lb/>
den Dur&#x017F;t nach Freyheit? Warum dem<lb/>
Wurme das Verlangen zu fliegen? Wozu<lb/>
eine unbe&#x017F;chra&#x0364;nkte Einbildungskraft, die<lb/>
immer geba&#x0364;hrende Mutter ku&#x0364;hner Begier-<lb/>
den, verwegner Wu&#x0364;n&#x017F;che und Gedanken?<lb/>
Zer&#x017F;chlage das Flei&#x017F;ch, das meine dunkle<lb/>
zweifelvolle Seele umhu&#x0364;llt nimm ihr das<lb/>
Erinnern, daß &#x017F;ie einen men&#x017F;chlichen Leib<lb/>
zum Su&#x0364;nder gemacht hat, dann will ich ei-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ner</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[398/0409] Boͤſes und Gutes zu unterſcheiden, wenn die Leidenſchaften die ſchwache Vernunft uͤberbruͤllen, wie das toſende Meer die Stim- me des Steuermanns, deſſen Schiff gegen die Klippen treibt? Wozu das Boͤſe? Wa- rum das Boͤſe? Er wollte es ſo; kann der Menſch den Saamen des Boͤſen aus der un- geheuren Maſſe herausreißen, den er mit Willen hineingelegt hat? Noch wuͤthender haſſe ich nun die Welt, den Menſchen und mich. Warum gab man mir, der zum Lei- den gebohren iſt, den Drang nach Gluͤck? Warum dem zur Finſterniß gebohrnen, den Wunſch nach Licht? Warum dem Sclaven den Durſt nach Freyheit? Warum dem Wurme das Verlangen zu fliegen? Wozu eine unbeſchraͤnkte Einbildungskraft, die immer gebaͤhrende Mutter kuͤhner Begier- den, verwegner Wuͤnſche und Gedanken? Zerſchlage das Fleiſch, das meine dunkle zweifelvolle Seele umhuͤllt nimm ihr das Erinnern, daß ſie einen menſchlichen Leib zum Suͤnder gemacht hat, dann will ich ei- ner

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/klinger_faust_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/klinger_faust_1791/409
Zitationshilfe: Klinger, Friedrich Maximilian: Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt. St. Petersburg, 1791, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klinger_faust_1791/409>, abgerufen am 28.03.2024.