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[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 2. Halle, 1756.

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Neunter Gesang.

Konnte sich, gegen Johannes, und, gegen die qualvolle Mutter,
Länger nicht halten. Er sah auf sie mit Blicken herunter,
Durch die, in ihr hinsinkendes Leben, ein neues herabrann.
Und er neigte sein göttliches Antliz, sie anzureden,
Gegen sie nieder. Es hörte mit bebendem Warten die Mutter
Freudigbang, als ob sie vom Tod erwacht' in die Höhe.
Und die Stimme des ewigen Sohns kam zu ihr herunter:

Meine Mutter! er ist dein Sohn! darauf zu dem Jünger:
Sie ist deine Mutter: Die beyden Liebenden wandten
Sich, mit Staunen, und Dank, und Thränen, gegen einander.
Aber der Sterbende hing, von Gottes Gerichte belastet,
Litt, was zu denken die Seel' erbebt; was zu sagen, die Sprache,
Selbst der Himmel, die Gott am Throne besingt, verstummet!
Stille voll Tiefsinn umgab den Todeshügel. Die Erde
Zittert unaufhörlich in ihren Tiefen; doch wurden
Jhre verborgneren Schauer noch nicht in den Gegenden hörbar,
Wo Jerusalem lag. Erst einmal war die Erschüttrung
Zu der Empörerinn aufgestiegen. Ein dunkles Gefühl nur,
Etwas, welches von fernher schreckte, mit Ahndung von Rache,
Wegen des Bluts, das izt floß! befiel die Herzen der Menge.
Und der Erde geheimes Entsezen durchbebt izt die Klüfte
Eines finstern Felsengebirgs, zu welchem, um einsam
Jn den Tiefen der Erde zu trauern, ferne vom Oelberg
Abbadona geflohn war. Er saß am Hange des Felsen,
Sah

Neunter Geſang.

Konnte ſich, gegen Johannes, und, gegen die qualvolle Mutter,
Laͤnger nicht halten. Er ſah auf ſie mit Blicken herunter,
Durch die, in ihr hinſinkendes Leben, ein neues herabrann.
Und er neigte ſein goͤttliches Antliz, ſie anzureden,
Gegen ſie nieder. Es hoͤrte mit bebendem Warten die Mutter
Freudigbang, als ob ſie vom Tod erwacht’ in die Hoͤhe.
Und die Stimme des ewigen Sohns kam zu ihr herunter:

Meine Mutter! er iſt dein Sohn! darauf zu dem Juͤnger:
Sie iſt deine Mutter: Die beyden Liebenden wandten
Sich, mit Staunen, und Dank, und Thraͤnen, gegen einander.
Aber der Sterbende hing, von Gottes Gerichte belaſtet,
Litt, was zu denken die Seel’ erbebt; was zu ſagen, die Sprache,
Selbſt der Himmel, die Gott am Throne beſingt, verſtummet!
Stille voll Tiefſinn umgab den Todeshuͤgel. Die Erde
Zittert unaufhoͤrlich in ihren Tiefen; doch wurden
Jhre verborgneren Schauer noch nicht in den Gegenden hoͤrbar,
Wo Jeruſalem lag. Erſt einmal war die Erſchuͤttrung
Zu der Empoͤrerinn aufgeſtiegen. Ein dunkles Gefuͤhl nur,
Etwas, welches von fernher ſchreckte, mit Ahndung von Rache,
Wegen des Bluts, das izt floß! befiel die Herzen der Menge.
Und der Erde geheimes Entſezen durchbebt izt die Kluͤfte
Eines finſtern Felſengebirgs, zu welchem, um einſam
Jn den Tiefen der Erde zu trauern, ferne vom Oelberg
Abbadona geflohn war. Er ſaß am Hange des Felſen,
Sah
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[107/0135] Neunter Geſang. Konnte ſich, gegen Johannes, und, gegen die qualvolle Mutter, Laͤnger nicht halten. Er ſah auf ſie mit Blicken herunter, Durch die, in ihr hinſinkendes Leben, ein neues herabrann. Und er neigte ſein goͤttliches Antliz, ſie anzureden, Gegen ſie nieder. Es hoͤrte mit bebendem Warten die Mutter Freudigbang, als ob ſie vom Tod erwacht’ in die Hoͤhe. Und die Stimme des ewigen Sohns kam zu ihr herunter: Meine Mutter! er iſt dein Sohn! darauf zu dem Juͤnger: Sie iſt deine Mutter: Die beyden Liebenden wandten Sich, mit Staunen, und Dank, und Thraͤnen, gegen einander. Aber der Sterbende hing, von Gottes Gerichte belaſtet, Litt, was zu denken die Seel’ erbebt; was zu ſagen, die Sprache, Selbſt der Himmel, die Gott am Throne beſingt, verſtummet! Stille voll Tiefſinn umgab den Todeshuͤgel. Die Erde Zittert unaufhoͤrlich in ihren Tiefen; doch wurden Jhre verborgneren Schauer noch nicht in den Gegenden hoͤrbar, Wo Jeruſalem lag. Erſt einmal war die Erſchuͤttrung Zu der Empoͤrerinn aufgeſtiegen. Ein dunkles Gefuͤhl nur, Etwas, welches von fernher ſchreckte, mit Ahndung von Rache, Wegen des Bluts, das izt floß! befiel die Herzen der Menge. Und der Erde geheimes Entſezen durchbebt izt die Kluͤfte Eines finſtern Felſengebirgs, zu welchem, um einſam Jn den Tiefen der Erde zu trauern, ferne vom Oelberg Abbadona geflohn war. Er ſaß am Hange des Felſen, Sah

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Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 2. Halle, 1756, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias02_1756/135>, abgerufen am 20.04.2024.