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[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 2. Halle, 1756.

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Von der Nachahmung
machen. Sappho hat eine Ode erfunden, deren Harmonie,
ob wir gleich nicht einmal zwey ganze Stücke von ihr haben,
sie am besten getroffen hat. Die drey ersten Zeilen sind in
dieser Strophe einander gleich, und wenn der gewöhnliche,
an sich harmonische Abschnitt immer wiederholt wird, so
verliert die Harmonie des Ganzen; ein kleines Versehn,
das Horaz mehr begangen, als vermieden hat. Es ist
zwar dieß desto leichter zu verzeihn, ie verführender der Ab-
schnitt an sich durch seinen Wohlklang ist, und ie weniger
man ihm in den ersten zwo Strophen die Eintönigkeit an-
sieht, die er schon in der dritten und vierten verursacht.
Jn der Ode an Pettius besteht die Strophe nur aus drey
Zeilen, da eine vierzeiligte einer viel vollern Harmonie und
eben der Ründe fähig ist. Die zweyte Zeile ist vielleicht
zu kurz, oder schlösse doch besser die Strophe. Vielleicht
wäre auch in der Ode an Melpomene, und in den andern
von eben dem Sylbenmasse, der längere Vers glücklicher der
erste, als daß er der zweyte ist.

Wenn diese Fragmente einer Abhandlung (denn ich
kann es keine Abhandlung nennen) einigen Lesern von Ge-
schmack einen bestimmtern Begrif von dem Sylbenmasse
der Alten gemacht haben sollten, als sie bisher davon gehabt
haben; so wird es ihnen vielleicht nicht unangenehm seyn,
wenn ich noch etwas von der Kunst, Gedichte zu lesen,
hinzusetze. Es ist mit Recht der zweyte Wunsch iedes
Dichters, der für denkende Leser geschrieben hat, daß sie
diese Geschicklichkeit besitzen möchten; eine Geschicklichkeit,
die Boileau, der sie besaß, für so wichtig hielt, daß er
dem glücklichen Vorleser den zweyten Platz nach dem Dich-
ter anwies. Zu unsern Zeiten, da man so sehr aufgehört
hat, sich aus der guten Vorlesung ein Geschäft zu machen,

ist

Von der Nachahmung
machen. Sappho hat eine Ode erfunden, deren Harmonie,
ob wir gleich nicht einmal zwey ganze Stuͤcke von ihr haben,
ſie am beſten getroffen hat. Die drey erſten Zeilen ſind in
dieſer Strophe einander gleich, und wenn der gewoͤhnliche,
an ſich harmoniſche Abſchnitt immer wiederholt wird, ſo
verliert die Harmonie des Ganzen; ein kleines Verſehn,
das Horaz mehr begangen, als vermieden hat. Es iſt
zwar dieß deſto leichter zu verzeihn, ie verfuͤhrender der Ab-
ſchnitt an ſich durch ſeinen Wohlklang iſt, und ie weniger
man ihm in den erſten zwo Strophen die Eintoͤnigkeit an-
ſieht, die er ſchon in der dritten und vierten verurſacht.
Jn der Ode an Pettius beſteht die Strophe nur aus drey
Zeilen, da eine vierzeiligte einer viel vollern Harmonie und
eben der Ruͤnde faͤhig iſt. Die zweyte Zeile iſt vielleicht
zu kurz, oder ſchloͤſſe doch beſſer die Strophe. Vielleicht
waͤre auch in der Ode an Melpomene, und in den andern
von eben dem Sylbenmaſſe, der laͤngere Vers gluͤcklicher der
erſte, als daß er der zweyte iſt.

Wenn dieſe Fragmente einer Abhandlung (denn ich
kann es keine Abhandlung nennen) einigen Leſern von Ge-
ſchmack einen beſtimmtern Begrif von dem Sylbenmaſſe
der Alten gemacht haben ſollten, als ſie bisher davon gehabt
haben; ſo wird es ihnen vielleicht nicht unangenehm ſeyn,
wenn ich noch etwas von der Kunſt, Gedichte zu leſen,
hinzuſetze. Es iſt mit Recht der zweyte Wunſch iedes
Dichters, der fuͤr denkende Leſer geſchrieben hat, daß ſie
dieſe Geſchicklichkeit beſitzen moͤchten; eine Geſchicklichkeit,
die Boileau, der ſie beſaß, fuͤr ſo wichtig hielt, daß er
dem gluͤcklichen Vorleſer den zweyten Platz nach dem Dich-
ter anwies. Zu unſern Zeiten, da man ſo ſehr aufgehoͤrt
hat, ſich aus der guten Vorleſung ein Geſchaͤft zu machen,

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[0014] Von der Nachahmung machen. Sappho hat eine Ode erfunden, deren Harmonie, ob wir gleich nicht einmal zwey ganze Stuͤcke von ihr haben, ſie am beſten getroffen hat. Die drey erſten Zeilen ſind in dieſer Strophe einander gleich, und wenn der gewoͤhnliche, an ſich harmoniſche Abſchnitt immer wiederholt wird, ſo verliert die Harmonie des Ganzen; ein kleines Verſehn, das Horaz mehr begangen, als vermieden hat. Es iſt zwar dieß deſto leichter zu verzeihn, ie verfuͤhrender der Ab- ſchnitt an ſich durch ſeinen Wohlklang iſt, und ie weniger man ihm in den erſten zwo Strophen die Eintoͤnigkeit an- ſieht, die er ſchon in der dritten und vierten verurſacht. Jn der Ode an Pettius beſteht die Strophe nur aus drey Zeilen, da eine vierzeiligte einer viel vollern Harmonie und eben der Ruͤnde faͤhig iſt. Die zweyte Zeile iſt vielleicht zu kurz, oder ſchloͤſſe doch beſſer die Strophe. Vielleicht waͤre auch in der Ode an Melpomene, und in den andern von eben dem Sylbenmaſſe, der laͤngere Vers gluͤcklicher der erſte, als daß er der zweyte iſt. Wenn dieſe Fragmente einer Abhandlung (denn ich kann es keine Abhandlung nennen) einigen Leſern von Ge- ſchmack einen beſtimmtern Begrif von dem Sylbenmaſſe der Alten gemacht haben ſollten, als ſie bisher davon gehabt haben; ſo wird es ihnen vielleicht nicht unangenehm ſeyn, wenn ich noch etwas von der Kunſt, Gedichte zu leſen, hinzuſetze. Es iſt mit Recht der zweyte Wunſch iedes Dichters, der fuͤr denkende Leſer geſchrieben hat, daß ſie dieſe Geſchicklichkeit beſitzen moͤchten; eine Geſchicklichkeit, die Boileau, der ſie beſaß, fuͤr ſo wichtig hielt, daß er dem gluͤcklichen Vorleſer den zweyten Platz nach dem Dich- ter anwies. Zu unſern Zeiten, da man ſo ſehr aufgehoͤrt hat, ſich aus der guten Vorleſung ein Geſchaͤft zu machen, iſt

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Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 2. Halle, 1756, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias02_1756/14>, abgerufen am 25.04.2024.