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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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IX.
Franz bekennt Farbe.

Der letzte Schnee war kaum von den Dächern ver¬
schwunden, die grimmige Kälte einer milderen Tem¬
peratur gewichen, als auf dem Neubau wieder emsig
gearbeitet wurde. Aber der große Maurerstrike, der während
der ersten Sommermonate herrschte, machte Urban einen argen
Strich durch die Rechnung.

Man schrieb das Jahr 1873. Ein industrieller Schwindel
hatte die gesammte Gesellschaft erfaßt; die Gründungen auf
Aktien schossen wie Pilze aus der Erde. Kapital und Arbeit
standen sich schroff gegenüber. Die Koalitionsfreiheit der Ar¬
beiter feierte Triumphe, denn eine seltene Einigkeit beseelte
die unteren Massen. Die Ansprüche der Niederen und Ent¬
erbten steigerten sich mit dem Golddurst der Reichen und Be¬
güterten. An Hunderten von Bauten Berlins wurde nur
zeitweise gearbeitet. Man strikte einfach so lange, bis man
die Forderung bewilligt bekommen hatte. Zum Unglück war
die Nachfrage nach Arbeitskräften stärker als das Angebot.
So kam es denn, daß zu Urbans großem Verdruß das Bauen


IX.
Franz bekennt Farbe.

Der letzte Schnee war kaum von den Dächern ver¬
ſchwunden, die grimmige Kälte einer milderen Tem¬
peratur gewichen, als auf dem Neubau wieder emſig
gearbeitet wurde. Aber der große Maurerſtrike, der während
der erſten Sommermonate herrſchte, machte Urban einen argen
Strich durch die Rechnung.

Man ſchrieb das Jahr 1873. Ein induſtrieller Schwindel
hatte die geſammte Geſellſchaft erfaßt; die Gründungen auf
Aktien ſchoſſen wie Pilze aus der Erde. Kapital und Arbeit
ſtanden ſich ſchroff gegenüber. Die Koalitionsfreiheit der Ar¬
beiter feierte Triumphe, denn eine ſeltene Einigkeit beſeelte
die unteren Maſſen. Die Anſprüche der Niederen und Ent¬
erbten ſteigerten ſich mit dem Golddurſt der Reichen und Be¬
güterten. An Hunderten von Bauten Berlins wurde nur
zeitweiſe gearbeitet. Man ſtrikte einfach ſo lange, bis man
die Forderung bewilligt bekommen hatte. Zum Unglück war
die Nachfrage nach Arbeitskräften ſtärker als das Angebot.
So kam es denn, daß zu Urbans großem Verdruß das Bauen

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[[126]/0138] IX. Franz bekennt Farbe. Der letzte Schnee war kaum von den Dächern ver¬ ſchwunden, die grimmige Kälte einer milderen Tem¬ peratur gewichen, als auf dem Neubau wieder emſig gearbeitet wurde. Aber der große Maurerſtrike, der während der erſten Sommermonate herrſchte, machte Urban einen argen Strich durch die Rechnung. Man ſchrieb das Jahr 1873. Ein induſtrieller Schwindel hatte die geſammte Geſellſchaft erfaßt; die Gründungen auf Aktien ſchoſſen wie Pilze aus der Erde. Kapital und Arbeit ſtanden ſich ſchroff gegenüber. Die Koalitionsfreiheit der Ar¬ beiter feierte Triumphe, denn eine ſeltene Einigkeit beſeelte die unteren Maſſen. Die Anſprüche der Niederen und Ent¬ erbten ſteigerten ſich mit dem Golddurſt der Reichen und Be¬ güterten. An Hunderten von Bauten Berlins wurde nur zeitweiſe gearbeitet. Man ſtrikte einfach ſo lange, bis man die Forderung bewilligt bekommen hatte. Zum Unglück war die Nachfrage nach Arbeitskräften ſtärker als das Angebot. So kam es denn, daß zu Urbans großem Verdruß das Bauen

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. [126]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/138>, abgerufen am 16.04.2024.