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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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sich erhob und immer höher und höher stieg. Die Häuser
erschienen wie bleigetränkt, die Perspektive der Straßen ver¬
kürzte sich: Berlin glich einer todten Stadt, in der jeder
Tritt, jedes leise Geräusch ein Echo abgiebt, das weit ver¬
nehmbar die Luft durchzittert.

In diesem Zwielicht taumelte Franz Timpe durch die
Straßen, dem Hause seines Vaters zu, um Ruhe für seinen
schweren Kopf zu suchen. Die Augen fielen ihm fast zu,
sein Gang war unsicher, sodaß er sich mit Gewalt beherrschen
mußte, um auf den Beinen zu bleiben. Auf dem jugend¬
lichen, nicht unschönen Antlitz zeigten sich die Spuren einer
durchzechten Nacht: jene Merkmale der Ueberanstrengung,
welche ein schwacher Körper noch nicht zu überwinden ver¬
mag. In der eigenthümlichen Beleuchtung des heran¬
brechenden Morgens, hervorgerufen durch den Kampf der
letzten Schatten der Nacht mit dem grün-gelben Luftschein
am Horizont, erschien sein Gesicht fahl und grau, hatte es
harte, ausdruckslose Linien angenommen. Den Paletot lose
um die Schultern gehängt, den Hut in den Nacken gerückt,
das Pincenez schief auf die Nase geklemmt, fuchtelte er mit
dem dünnen Spazierstöckchen in der Luft herum, versuchte er
jedem Laternenpfahl seine Fechterkünste zu beweisen.

In seiner Phantasie standen die Häuser schief, machten
sie einen fremdartigen Eindruck auf ihn, trotzdem ihm jedes
einzelne durch die Firmenschilder, die an ihm klebten, die
Eigenthümlichkeiten, die ihm anhafteten, genau bekannt war.
In diesem Stadtviertel war er geboren, hatte er die Tage
seiner Kindheit verlebt, war er zum Knaben und zum Jüng¬
ling gereift. Selbst jetzt, wo das Fehlen der fluthenden
Menge und rasselnden Wagen, die herabgelassenen Rouleaux

ſich erhob und immer höher und höher ſtieg. Die Häuſer
erſchienen wie bleigetränkt, die Perſpektive der Straßen ver¬
kürzte ſich: Berlin glich einer todten Stadt, in der jeder
Tritt, jedes leiſe Geräuſch ein Echo abgiebt, das weit ver¬
nehmbar die Luft durchzittert.

In dieſem Zwielicht taumelte Franz Timpe durch die
Straßen, dem Hauſe ſeines Vaters zu, um Ruhe für ſeinen
ſchweren Kopf zu ſuchen. Die Augen fielen ihm faſt zu,
ſein Gang war unſicher, ſodaß er ſich mit Gewalt beherrſchen
mußte, um auf den Beinen zu bleiben. Auf dem jugend¬
lichen, nicht unſchönen Antlitz zeigten ſich die Spuren einer
durchzechten Nacht: jene Merkmale der Ueberanſtrengung,
welche ein ſchwacher Körper noch nicht zu überwinden ver¬
mag. In der eigenthümlichen Beleuchtung des heran¬
brechenden Morgens, hervorgerufen durch den Kampf der
letzten Schatten der Nacht mit dem grün-gelben Luftſchein
am Horizont, erſchien ſein Geſicht fahl und grau, hatte es
harte, ausdrucksloſe Linien angenommen. Den Paletot loſe
um die Schultern gehängt, den Hut in den Nacken gerückt,
das Pincenez ſchief auf die Naſe geklemmt, fuchtelte er mit
dem dünnen Spazierſtöckchen in der Luft herum, verſuchte er
jedem Laternenpfahl ſeine Fechterkünſte zu beweiſen.

In ſeiner Phantaſie ſtanden die Häuſer ſchief, machten
ſie einen fremdartigen Eindruck auf ihn, trotzdem ihm jedes
einzelne durch die Firmenſchilder, die an ihm klebten, die
Eigenthümlichkeiten, die ihm anhafteten, genau bekannt war.
In dieſem Stadtviertel war er geboren, hatte er die Tage
ſeiner Kindheit verlebt, war er zum Knaben und zum Jüng¬
ling gereift. Selbſt jetzt, wo das Fehlen der fluthenden
Menge und raſſelnden Wagen, die herabgelaſſenen Rouleaux

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[2/0014] ſich erhob und immer höher und höher ſtieg. Die Häuſer erſchienen wie bleigetränkt, die Perſpektive der Straßen ver¬ kürzte ſich: Berlin glich einer todten Stadt, in der jeder Tritt, jedes leiſe Geräuſch ein Echo abgiebt, das weit ver¬ nehmbar die Luft durchzittert. In dieſem Zwielicht taumelte Franz Timpe durch die Straßen, dem Hauſe ſeines Vaters zu, um Ruhe für ſeinen ſchweren Kopf zu ſuchen. Die Augen fielen ihm faſt zu, ſein Gang war unſicher, ſodaß er ſich mit Gewalt beherrſchen mußte, um auf den Beinen zu bleiben. Auf dem jugend¬ lichen, nicht unſchönen Antlitz zeigten ſich die Spuren einer durchzechten Nacht: jene Merkmale der Ueberanſtrengung, welche ein ſchwacher Körper noch nicht zu überwinden ver¬ mag. In der eigenthümlichen Beleuchtung des heran¬ brechenden Morgens, hervorgerufen durch den Kampf der letzten Schatten der Nacht mit dem grün-gelben Luftſchein am Horizont, erſchien ſein Geſicht fahl und grau, hatte es harte, ausdrucksloſe Linien angenommen. Den Paletot loſe um die Schultern gehängt, den Hut in den Nacken gerückt, das Pincenez ſchief auf die Naſe geklemmt, fuchtelte er mit dem dünnen Spazierſtöckchen in der Luft herum, verſuchte er jedem Laternenpfahl ſeine Fechterkünſte zu beweiſen. In ſeiner Phantaſie ſtanden die Häuſer ſchief, machten ſie einen fremdartigen Eindruck auf ihn, trotzdem ihm jedes einzelne durch die Firmenſchilder, die an ihm klebten, die Eigenthümlichkeiten, die ihm anhafteten, genau bekannt war. In dieſem Stadtviertel war er geboren, hatte er die Tage ſeiner Kindheit verlebt, war er zum Knaben und zum Jüng¬ ling gereift. Selbſt jetzt, wo das Fehlen der fluthenden Menge und raſſelnden Wagen, die herabgelaſſenen Rouleaux

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/14>, abgerufen am 29.03.2024.