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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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seines Vaters. Trotz der Trauer war eine stumme Wuth
bei ihm hervorgebrochen. Er hatte im Geheimen den Kranz
in Stücke zerissen und ihn mit den Füßen zertreten.

Die ersten Wochen, die diesen Begebenheiten folgten,
waren die entsetzlichsten in des Meisters Leben. Er schlich
fast nur umher, betrat nur in den nothwendigsten Fällen die
Werkstatt und schloß sich stundenlang in seiner Arbeitsstube
ein. Sprach ihn einer der Gesellen an, um ihn nach etwas
zu fragen, so schreckte er zusammen; und es bedurfte erst
einer Wiederholung der Frage, um ihn aus der halben Be¬
täubung, in der er sich befand, zu erwecken. Alles in Allem
bot er das Bild eines an Körper und Seele gebrochenen
Menschen. Thomas Beyer meinte eines Tages, der Meister
sähe aus, als wäre er eine Weile lebendig begraben gewesen
und wieder zum Leben erweckt worden. Wenn die anderen
Gehilfen die Veränderung des Meisters dem plötzlichen
Tode des von ihm so sehr geliebten Vaters zu¬
schrieben, so war der Altgeselle wie gewöhnlich an¬
derer Meinung und blickte tiefer. Timpe hatte keine
Silbe von dem nächtlichen Diebstahle erwähnt, wohl aber
hatte Beyer von Krusemeyer davon erfahren, wenn auch der
Wächter ihm ebenfalls die Geschichte von dem "zerlumpten,
graubärtigen Kerl" erzählt hatte. Am Auffallendsten war es
Beyer, daß über den nächtlichen Vorfall keine Anzeige er¬
stattet wurde. Als er Krusemeyer seine Verwunderung dar¬
über aussprach, meinte dieser, Timpe wolle keine Scherereien
haben; umsoweniger, da er keinen Schaden erlitten habe,
denn es sei nichts gestohlen worden. Der Meister habe auch er¬
klärt, er könne an die Wirklichkeit des Vorganges gar nicht glauben,
er müsse alles für eine Vision oder einen bösen Spuk halten.

ſeines Vaters. Trotz der Trauer war eine ſtumme Wuth
bei ihm hervorgebrochen. Er hatte im Geheimen den Kranz
in Stücke zeriſſen und ihn mit den Füßen zertreten.

Die erſten Wochen, die dieſen Begebenheiten folgten,
waren die entſetzlichſten in des Meiſters Leben. Er ſchlich
faſt nur umher, betrat nur in den nothwendigſten Fällen die
Werkſtatt und ſchloß ſich ſtundenlang in ſeiner Arbeitsſtube
ein. Sprach ihn einer der Geſellen an, um ihn nach etwas
zu fragen, ſo ſchreckte er zuſammen; und es bedurfte erſt
einer Wiederholung der Frage, um ihn aus der halben Be¬
täubung, in der er ſich befand, zu erwecken. Alles in Allem
bot er das Bild eines an Körper und Seele gebrochenen
Menſchen. Thomas Beyer meinte eines Tages, der Meiſter
ſähe aus, als wäre er eine Weile lebendig begraben geweſen
und wieder zum Leben erweckt worden. Wenn die anderen
Gehilfen die Veränderung des Meiſters dem plötzlichen
Tode des von ihm ſo ſehr geliebten Vaters zu¬
ſchrieben, ſo war der Altgeſelle wie gewöhnlich an¬
derer Meinung und blickte tiefer. Timpe hatte keine
Silbe von dem nächtlichen Diebſtahle erwähnt, wohl aber
hatte Beyer von Kruſemeyer davon erfahren, wenn auch der
Wächter ihm ebenfalls die Geſchichte von dem „zerlumpten,
graubärtigen Kerl“ erzählt hatte. Am Auffallendſten war es
Beyer, daß über den nächtlichen Vorfall keine Anzeige er¬
ſtattet wurde. Als er Kruſemeyer ſeine Verwunderung dar¬
über ausſprach, meinte dieſer, Timpe wolle keine Scherereien
haben; umſoweniger, da er keinen Schaden erlitten habe,
denn es ſei nichts geſtohlen worden. Der Meiſter habe auch er¬
klärt, er könne an die Wirklichkeit des Vorganges gar nicht glauben,
er müſſe alles für eine Viſion oder einen böſen Spuk halten.

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[202/0214] ſeines Vaters. Trotz der Trauer war eine ſtumme Wuth bei ihm hervorgebrochen. Er hatte im Geheimen den Kranz in Stücke zeriſſen und ihn mit den Füßen zertreten. Die erſten Wochen, die dieſen Begebenheiten folgten, waren die entſetzlichſten in des Meiſters Leben. Er ſchlich faſt nur umher, betrat nur in den nothwendigſten Fällen die Werkſtatt und ſchloß ſich ſtundenlang in ſeiner Arbeitsſtube ein. Sprach ihn einer der Geſellen an, um ihn nach etwas zu fragen, ſo ſchreckte er zuſammen; und es bedurfte erſt einer Wiederholung der Frage, um ihn aus der halben Be¬ täubung, in der er ſich befand, zu erwecken. Alles in Allem bot er das Bild eines an Körper und Seele gebrochenen Menſchen. Thomas Beyer meinte eines Tages, der Meiſter ſähe aus, als wäre er eine Weile lebendig begraben geweſen und wieder zum Leben erweckt worden. Wenn die anderen Gehilfen die Veränderung des Meiſters dem plötzlichen Tode des von ihm ſo ſehr geliebten Vaters zu¬ ſchrieben, ſo war der Altgeſelle wie gewöhnlich an¬ derer Meinung und blickte tiefer. Timpe hatte keine Silbe von dem nächtlichen Diebſtahle erwähnt, wohl aber hatte Beyer von Kruſemeyer davon erfahren, wenn auch der Wächter ihm ebenfalls die Geſchichte von dem „zerlumpten, graubärtigen Kerl“ erzählt hatte. Am Auffallendſten war es Beyer, daß über den nächtlichen Vorfall keine Anzeige er¬ ſtattet wurde. Als er Kruſemeyer ſeine Verwunderung dar¬ über ausſprach, meinte dieſer, Timpe wolle keine Scherereien haben; umſoweniger, da er keinen Schaden erlitten habe, denn es ſei nichts geſtohlen worden. Der Meiſter habe auch er¬ klärt, er könne an die Wirklichkeit des Vorganges gar nicht glauben, er müſſe alles für eine Viſion oder einen böſen Spuk halten.

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/214>, abgerufen am 25.04.2024.