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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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XVIII.
Der neue Heiland.

Seit der Abwicklung dieses Geschäfts konnte man Timpe
mit einem Dachs vergleichen, der Tage lang in seinem
Bau hockt und nur durch den Hunger getrieben wird,
ihn zu verlassen. Er beschränkte sich jetzt nur noch
ganz auf die große Werkstatt und seine Arbeitsstube, die
zugleich sein Schlafzimmer war. Die "gute Stube" hatte er
seit Monaten nicht gesehen und das Wohnzimmer betrat er
nur in Ausnahmefällen. Er fürchtete sich, durch ihm lieb ge¬
wordene Gegenstände an den Großvater und Karoline erinnert
zu werden. Die Läden, die nach dem Winkel vor dem Hause
hinausgingen, wurden mit Ausnahme des einen halben, der
zum Fenster der Modell- und Schlafstube gehörte, garnicht
mehr geöffnet. Die Hausthür war den ganzen Tag über
geschlossen; ein mächtiger Riegel war vorgeschoben.

Timpe stand pünktlich auf, hielt seine Mahlzeiten regelmäßig
und legte sich Abend für Abend um dieselbe Zeit nieder. Von
früh bis spät drehte er ein und dieselbe Arbeit: Stuhlbeine
für Luxusstühle, die er bereits mit Beyer zusammen gedrechselt
hatte. Als das Wochen lang so fortging, merkte er, daß seine
Augen schwach wurden; sie fingen an zu thränen, so daß er


XVIII.
Der neue Heiland.

Seit der Abwicklung dieſes Geſchäfts konnte man Timpe
mit einem Dachs vergleichen, der Tage lang in ſeinem
Bau hockt und nur durch den Hunger getrieben wird,
ihn zu verlaſſen. Er beſchränkte ſich jetzt nur noch
ganz auf die große Werkſtatt und ſeine Arbeitsſtube, die
zugleich ſein Schlafzimmer war. Die „gute Stube“ hatte er
ſeit Monaten nicht geſehen und das Wohnzimmer betrat er
nur in Ausnahmefällen. Er fürchtete ſich, durch ihm lieb ge¬
wordene Gegenſtände an den Großvater und Karoline erinnert
zu werden. Die Läden, die nach dem Winkel vor dem Hauſe
hinausgingen, wurden mit Ausnahme des einen halben, der
zum Fenſter der Modell- und Schlafſtube gehörte, garnicht
mehr geöffnet. Die Hausthür war den ganzen Tag über
geſchloſſen; ein mächtiger Riegel war vorgeſchoben.

Timpe ſtand pünktlich auf, hielt ſeine Mahlzeiten regelmäßig
und legte ſich Abend für Abend um dieſelbe Zeit nieder. Von
früh bis ſpät drehte er ein und dieſelbe Arbeit: Stuhlbeine
für Luxusſtühle, die er bereits mit Beyer zuſammen gedrechſelt
hatte. Als das Wochen lang ſo fortging, merkte er, daß ſeine
Augen ſchwach wurden; ſie fingen an zu thränen, ſo daß er

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[[269]/0281] XVIII. Der neue Heiland. Seit der Abwicklung dieſes Geſchäfts konnte man Timpe mit einem Dachs vergleichen, der Tage lang in ſeinem Bau hockt und nur durch den Hunger getrieben wird, ihn zu verlaſſen. Er beſchränkte ſich jetzt nur noch ganz auf die große Werkſtatt und ſeine Arbeitsſtube, die zugleich ſein Schlafzimmer war. Die „gute Stube“ hatte er ſeit Monaten nicht geſehen und das Wohnzimmer betrat er nur in Ausnahmefällen. Er fürchtete ſich, durch ihm lieb ge¬ wordene Gegenſtände an den Großvater und Karoline erinnert zu werden. Die Läden, die nach dem Winkel vor dem Hauſe hinausgingen, wurden mit Ausnahme des einen halben, der zum Fenſter der Modell- und Schlafſtube gehörte, garnicht mehr geöffnet. Die Hausthür war den ganzen Tag über geſchloſſen; ein mächtiger Riegel war vorgeſchoben. Timpe ſtand pünktlich auf, hielt ſeine Mahlzeiten regelmäßig und legte ſich Abend für Abend um dieſelbe Zeit nieder. Von früh bis ſpät drehte er ein und dieſelbe Arbeit: Stuhlbeine für Luxusſtühle, die er bereits mit Beyer zuſammen gedrechſelt hatte. Als das Wochen lang ſo fortging, merkte er, daß ſeine Augen ſchwach wurden; ſie fingen an zu thränen, ſo daß er

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. [269]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/281>, abgerufen am 28.03.2024.