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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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VI.
Franzens-Ruh.

Franzens-Ruh war lange nicht so zu Ehren gekommen,
wie in den nächsten Wochen und Monaten. Tag für
Tag bestieg Johannes Timpe die Warte, um sich von
dem Fortschritt jenseits der Mauer zu überzeugen.

An klaren Sommerabenden, wenn das absterbende Leben
Berlins sich bereits bemerkbar machte, der letzte Dunst der
heißen Straßen verschwunden war und eine allgemeine Er¬
mattung in der Luft lag, durch welche das zweite Erwachen
der Riesenstadt zum Vergnügen nach den Lasten des Tages,
nur in gedämpften Lauten herübergeführt wurde, saß es sich
oben in den Zweigen am Schönsten.

Ueber die Dächer der niedrigen Häuser hinweg konnte
der Meister seinen Blick in die Ferne schweifen lassen. Wendete
er den Rücken, so schaute er in das Treiben der Holzmarkt-
Straße hinein, die sich längs der Spree hinzog. Rechts am
diesseitigen Ufer tauchte das langgestreckte, schwarze Gebäude
einer Eisengießerei auf; links davon in einiger Entfernung
die Riesen-Gasometer einer Gasanstalt, die sich wie Festungs¬


VI.
Franzens-Ruh.

Franzens-Ruh war lange nicht ſo zu Ehren gekommen,
wie in den nächſten Wochen und Monaten. Tag für
Tag beſtieg Johannes Timpe die Warte, um ſich von
dem Fortſchritt jenſeits der Mauer zu überzeugen.

An klaren Sommerabenden, wenn das abſterbende Leben
Berlins ſich bereits bemerkbar machte, der letzte Dunſt der
heißen Straßen verſchwunden war und eine allgemeine Er¬
mattung in der Luft lag, durch welche das zweite Erwachen
der Rieſenſtadt zum Vergnügen nach den Laſten des Tages,
nur in gedämpften Lauten herübergeführt wurde, ſaß es ſich
oben in den Zweigen am Schönſten.

Ueber die Dächer der niedrigen Häuſer hinweg konnte
der Meiſter ſeinen Blick in die Ferne ſchweifen laſſen. Wendete
er den Rücken, ſo ſchaute er in das Treiben der Holzmarkt-
Straße hinein, die ſich längs der Spree hinzog. Rechts am
diesſeitigen Ufer tauchte das langgeſtreckte, ſchwarze Gebäude
einer Eiſengießerei auf; links davon in einiger Entfernung
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[[69]/0081] VI. Franzens-Ruh. Franzens-Ruh war lange nicht ſo zu Ehren gekommen, wie in den nächſten Wochen und Monaten. Tag für Tag beſtieg Johannes Timpe die Warte, um ſich von dem Fortſchritt jenſeits der Mauer zu überzeugen. An klaren Sommerabenden, wenn das abſterbende Leben Berlins ſich bereits bemerkbar machte, der letzte Dunſt der heißen Straßen verſchwunden war und eine allgemeine Er¬ mattung in der Luft lag, durch welche das zweite Erwachen der Rieſenſtadt zum Vergnügen nach den Laſten des Tages, nur in gedämpften Lauten herübergeführt wurde, ſaß es ſich oben in den Zweigen am Schönſten. Ueber die Dächer der niedrigen Häuſer hinweg konnte der Meiſter ſeinen Blick in die Ferne ſchweifen laſſen. Wendete er den Rücken, ſo ſchaute er in das Treiben der Holzmarkt- Straße hinein, die ſich längs der Spree hinzog. Rechts am diesſeitigen Ufer tauchte das langgeſtreckte, ſchwarze Gebäude einer Eiſengießerei auf; links davon in einiger Entfernung die Rieſen-Gaſometer einer Gasanſtalt, die ſich wie Feſtungs¬

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. [69]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/81>, abgerufen am 25.04.2024.