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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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Ist's auch nur ein Proletariat, das Präsident werden und nicht blos
satt werden will, so weiß er wohl: der Nothschrei Lear's um seine
hundert Ritter und der schlesische Nothschrei nach einem Mißjahre sind
beide ein Nothschrei. Die Noth, die welterschütternde, treibt hier wie
dort, und wer heute noch den Luxus bedarf, bedarf morgen schon das
Bedürfniß. In der That: um dieses Heute und Morgen bewegt sich
Europa's und Amerika's ganze Differenzial-Rechnung vom Glücke. Darum
wird man sich hüten, die Workies gering anzuschlagen. Man wird
sich hüten, zu wähnen, es sei hier von einer jener unzähligen Parteien
im Staate die Rede, welche sich in Gottes Namen gegen einander
reiben, und "im feurigen Bewegen ihre Kräfte kundthun" mögen. Ge¬
wissen Organismen wohnt die Prädestination der Alleinherrschaft inne.
Die Bauern in Latium waren nicht ein kriegerischer Volksschlag neben
andern Völkern Italiens; sie wußten es gleich von vorn herein nicht
anders, als daß sie die Welt erobern würden. Die verachtete Secte
der Nazarener fühlte sich nicht etwa collegialisch neben der Secte der
Sadducäer, Pharisäer und Essäer: sie nannte als ihren Beruf --
"hinzugehen in alle Welt". So die Workies. Ihre Anfänge sind
die geringsten, denn Amerika ist überwiegend mehr ein Ackerbau- als
ein Industriestaat; ihre Zukunft dagegen ist die größte, denn der erste
Blick auf die Oberfläche des amerikanischen Bodens zeigt uns einen
so ungeheuren zu Tage liegenden Schatz von Kohlen und Eisen, ein
so vortreffliches System von Meer-, See- und Fluß-Bahnen, daß wir
dem Lande wie an der Stirne seinen Beruf lesen: der erste Industrie¬
staat der Welt zu werden. Bedenken wir dazu, daß die hiesige Be¬
völkerung in rascheren Proportionen als irgend auf der Erde zunimmt,
bedenken wir ferner, daß der Geist nicht nur des heutigen Gouver¬
nements, sondern die National-Eitelkeit des ganzen Volkes nach der
verhängnißvollen Ehre einer großen Industrie wahrhaft dürstet und
das Unglaublichste leistet um eine solche rasch möglichst emporzukünsteln:
so werden wir nicht daran zweifeln, daß dieser unendlich mit sich selbst
multiplicirte Kankrin sein Ideal bald und gründlich erreichen wird.
Ja, auch Amerika geht den Zuständen entgegen, in welchen Millionen
Existenzen von der Nachfrage um ein einziges Fabrikat abhängen; auch
hier wird diese Nachfrage einem beständigen Schwanken unterworfen
sein und das Pendel Reichthum und Ueberfluß auf die eine, Noth

Iſt's auch nur ein Proletariat, das Präſident werden und nicht blos
ſatt werden will, ſo weiß er wohl: der Nothſchrei Lear's um ſeine
hundert Ritter und der ſchleſiſche Nothſchrei nach einem Mißjahre ſind
beide ein Nothſchrei. Die Noth, die welterſchütternde, treibt hier wie
dort, und wer heute noch den Luxus bedarf, bedarf morgen ſchon das
Bedürfniß. In der That: um dieſes Heute und Morgen bewegt ſich
Europa's und Amerika's ganze Differenzial-Rechnung vom Glücke. Darum
wird man ſich hüten, die Workies gering anzuſchlagen. Man wird
ſich hüten, zu wähnen, es ſei hier von einer jener unzähligen Parteien
im Staate die Rede, welche ſich in Gottes Namen gegen einander
reiben, und „im feurigen Bewegen ihre Kräfte kundthun“ mögen. Ge¬
wiſſen Organismen wohnt die Prädeſtination der Alleinherrſchaft inne.
Die Bauern in Latium waren nicht ein kriegeriſcher Volksſchlag neben
andern Völkern Italiens; ſie wußten es gleich von vorn herein nicht
anders, als daß ſie die Welt erobern würden. Die verachtete Secte
der Nazarener fühlte ſich nicht etwa collegialiſch neben der Secte der
Sadducäer, Phariſäer und Eſſäer: ſie nannte als ihren Beruf —
„hinzugehen in alle Welt“. So die Workies. Ihre Anfänge ſind
die geringſten, denn Amerika iſt überwiegend mehr ein Ackerbau- als
ein Induſtrieſtaat; ihre Zukunft dagegen iſt die größte, denn der erſte
Blick auf die Oberfläche des amerikaniſchen Bodens zeigt uns einen
ſo ungeheuren zu Tage liegenden Schatz von Kohlen und Eiſen, ein
ſo vortreffliches Syſtem von Meer-, See- und Fluß-Bahnen, daß wir
dem Lande wie an der Stirne ſeinen Beruf leſen: der erſte Induſtrie¬
ſtaat der Welt zu werden. Bedenken wir dazu, daß die hieſige Be¬
völkerung in raſcheren Proportionen als irgend auf der Erde zunimmt,
bedenken wir ferner, daß der Geiſt nicht nur des heutigen Gouver¬
nements, ſondern die National-Eitelkeit des ganzen Volkes nach der
verhängnißvollen Ehre einer großen Induſtrie wahrhaft dürſtet und
das Unglaublichſte leiſtet um eine ſolche raſch möglichſt emporzukünſteln:
ſo werden wir nicht daran zweifeln, daß dieſer unendlich mit ſich ſelbſt
multiplicirte Kankrin ſein Ideal bald und gründlich erreichen wird.
Ja, auch Amerika geht den Zuſtänden entgegen, in welchen Millionen
Exiſtenzen von der Nachfrage um ein einziges Fabrikat abhängen; auch
hier wird dieſe Nachfrage einem beſtändigen Schwanken unterworfen
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[169/0187] Iſt's auch nur ein Proletariat, das Präſident werden und nicht blos ſatt werden will, ſo weiß er wohl: der Nothſchrei Lear's um ſeine hundert Ritter und der ſchleſiſche Nothſchrei nach einem Mißjahre ſind beide ein Nothſchrei. Die Noth, die welterſchütternde, treibt hier wie dort, und wer heute noch den Luxus bedarf, bedarf morgen ſchon das Bedürfniß. In der That: um dieſes Heute und Morgen bewegt ſich Europa's und Amerika's ganze Differenzial-Rechnung vom Glücke. Darum wird man ſich hüten, die Workies gering anzuſchlagen. Man wird ſich hüten, zu wähnen, es ſei hier von einer jener unzähligen Parteien im Staate die Rede, welche ſich in Gottes Namen gegen einander reiben, und „im feurigen Bewegen ihre Kräfte kundthun“ mögen. Ge¬ wiſſen Organismen wohnt die Prädeſtination der Alleinherrſchaft inne. Die Bauern in Latium waren nicht ein kriegeriſcher Volksſchlag neben andern Völkern Italiens; ſie wußten es gleich von vorn herein nicht anders, als daß ſie die Welt erobern würden. Die verachtete Secte der Nazarener fühlte ſich nicht etwa collegialiſch neben der Secte der Sadducäer, Phariſäer und Eſſäer: ſie nannte als ihren Beruf — „hinzugehen in alle Welt“. So die Workies. Ihre Anfänge ſind die geringſten, denn Amerika iſt überwiegend mehr ein Ackerbau- als ein Induſtrieſtaat; ihre Zukunft dagegen iſt die größte, denn der erſte Blick auf die Oberfläche des amerikaniſchen Bodens zeigt uns einen ſo ungeheuren zu Tage liegenden Schatz von Kohlen und Eiſen, ein ſo vortreffliches Syſtem von Meer-, See- und Fluß-Bahnen, daß wir dem Lande wie an der Stirne ſeinen Beruf leſen: der erſte Induſtrie¬ ſtaat der Welt zu werden. Bedenken wir dazu, daß die hieſige Be¬ völkerung in raſcheren Proportionen als irgend auf der Erde zunimmt, bedenken wir ferner, daß der Geiſt nicht nur des heutigen Gouver¬ nements, ſondern die National-Eitelkeit des ganzen Volkes nach der verhängnißvollen Ehre einer großen Induſtrie wahrhaft dürſtet und das Unglaublichſte leiſtet um eine ſolche raſch möglichſt emporzukünſteln: ſo werden wir nicht daran zweifeln, daß dieſer unendlich mit ſich ſelbſt multiplicirte Kankrin ſein Ideal bald und gründlich erreichen wird. Ja, auch Amerika geht den Zuſtänden entgegen, in welchen Millionen Exiſtenzen von der Nachfrage um ein einziges Fabrikat abhängen; auch hier wird dieſe Nachfrage einem beſtändigen Schwanken unterworfen ſein und das Pendel Reichthum und Ueberfluß auf die eine, Noth

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/187>, abgerufen am 19.04.2024.