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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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tische Poll betrugen sich auf einmal knapp und gemessen. Unter den
Amerikanern nahmen sie ihre amerikanische Miene vor.

Wir drängten uns aus der Pheripherie des Menschenknäuels
muthig ins Centrum durch. Die Scene hier war folgende. Hoby saß
in der That auf einem niedern Stuhl, nach der vorigen Aeußerung,
dem Angststuhl. Der Prediger und sein Gehilfe standen ihm links
und rechts zur Seite und hielten, oder vielmehr rüttelten und schüttelten ihn
wie ein Sieb, um seine wunderthätigen Circulationen zu befördern. Er lag
oder streckte sich in ihren Armen, und that, zwischen den Ausrufungen an
Jesu, seine Wiederbelebungsbeichte. Ich habe gestohlen -- Jesus komm
herab! ich war unzüchtig -- Jesus komm herab! -- ich entweihte den Sab¬
bath -- Jesus komm herab! u. s. w. So oft er eine Sünde nannte, stieß
er heftig mit dem Bein, gleichsam unter Fußtritten sie verabschiedend; bei der
Formel: Jesus komm herab! fuhr er dagegen mit der Hand in die
Luft, wie Macbeth der nach dem Dolche hascht. Diese Geberden lösten
sich fast canonisch-regelmäßig einander ab: es sah aus wie Maschinen¬
arbeit, wie Drahtpuppenbewegung. Ein ähnliches Manöver wiederholte
er mit der Stimme. Das Bekenntniß einer Sünde stöhnte er dumpf
und röchelnd wie ein Sterbender, den Refrain: Jesus komm herab!
stieß er gellend heraus wie im aufschreienden Schmerzgefühl. Dabei
athmete sein heiserer, offen stehender Schlund kurz und lechzend, seine
Augen rollten wild, sein Gesicht war aufgedunsen, verdummt und
verquollen, Schweiß und Schaum bedeckte es reichlich. Die Umste¬
henden blickten mit großer Andacht auf dieses Bild des Abscheu's.

Ich wendete geekelt das Auge davon. Wäre es möglich gewesen,
das dichte Gedränge von Menschen zu durchpirschen wie ein Wald¬
dickicht, so hätte ich sogleich die Familie Ermar aufgesucht. Ich brannte
vor Ungeduld mich zu überzeugen, daß ihre deutsche Natur entweder
selbst schon abgeschreckt sei, oder mindestens meine Sorge für Annette
gutheiße. Zufällig standen sie mir näher als ich ahnte. Indem ich
den Kreis überblickte, sah ich Vater, Mutter und Kind an einem mir
entgegengesetzten Punkte des Cirkels in den vordersten Reihen stehen.
Annette hielt sich ihr Taschentuch vor die Augen, weil ihr die Sonne
grell in's Gesicht schien, oder um sich vor dem barbarischen Schauspiele
der Wiederbelebung zu schützen. Ich mochte gerne das Letztere glau¬
ben. Die Mutter stand etwas zurück, ich sah nur ihre vorgestreckten

tiſche Poll betrugen ſich auf einmal knapp und gemeſſen. Unter den
Amerikanern nahmen ſie ihre amerikaniſche Miene vor.

Wir drängten uns aus der Pheripherie des Menſchenknäuels
muthig ins Centrum durch. Die Scene hier war folgende. Hoby ſaß
in der That auf einem niedern Stuhl, nach der vorigen Aeußerung,
dem Angſtſtuhl. Der Prediger und ſein Gehilfe ſtanden ihm links
und rechts zur Seite und hielten, oder vielmehr rüttelten und ſchüttelten ihn
wie ein Sieb, um ſeine wunderthätigen Circulationen zu befördern. Er lag
oder ſtreckte ſich in ihren Armen, und that, zwiſchen den Ausrufungen an
Jeſu, ſeine Wiederbelebungsbeichte. Ich habe geſtohlen — Jeſus komm
herab! ich war unzüchtig — Jeſus komm herab! — ich entweihte den Sab¬
bath — Jeſus komm herab! u. ſ. w. So oft er eine Sünde nannte, ſtieß
er heftig mit dem Bein, gleichſam unter Fußtritten ſie verabſchiedend; bei der
Formel: Jeſus komm herab! fuhr er dagegen mit der Hand in die
Luft, wie Macbeth der nach dem Dolche haſcht. Dieſe Geberden löſten
ſich faſt canoniſch-regelmäßig einander ab: es ſah aus wie Maſchinen¬
arbeit, wie Drahtpuppenbewegung. Ein ähnliches Manöver wiederholte
er mit der Stimme. Das Bekenntniß einer Sünde ſtöhnte er dumpf
und röchelnd wie ein Sterbender, den Refrain: Jeſus komm herab!
ſtieß er gellend heraus wie im aufſchreienden Schmerzgefühl. Dabei
athmete ſein heiſerer, offen ſtehender Schlund kurz und lechzend, ſeine
Augen rollten wild, ſein Geſicht war aufgedunſen, verdummt und
verquollen, Schweiß und Schaum bedeckte es reichlich. Die Umſte¬
henden blickten mit großer Andacht auf dieſes Bild des Abſcheu's.

Ich wendete geekelt das Auge davon. Wäre es möglich geweſen,
das dichte Gedränge von Menſchen zu durchpirſchen wie ein Wald¬
dickicht, ſo hätte ich ſogleich die Familie Ermar aufgeſucht. Ich brannte
vor Ungeduld mich zu überzeugen, daß ihre deutſche Natur entweder
ſelbſt ſchon abgeſchreckt ſei, oder mindeſtens meine Sorge für Annette
gutheiße. Zufällig ſtanden ſie mir näher als ich ahnte. Indem ich
den Kreis überblickte, ſah ich Vater, Mutter und Kind an einem mir
entgegengeſetzten Punkte des Cirkels in den vorderſten Reihen ſtehen.
Annette hielt ſich ihr Taſchentuch vor die Augen, weil ihr die Sonne
grell in's Geſicht ſchien, oder um ſich vor dem barbariſchen Schauſpiele
der Wiederbelebung zu ſchützen. Ich mochte gerne das Letztere glau¬
ben. Die Mutter ſtand etwas zurück, ich ſah nur ihre vorgeſtreckten

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[394/0412] tiſche Poll betrugen ſich auf einmal knapp und gemeſſen. Unter den Amerikanern nahmen ſie ihre amerikaniſche Miene vor. Wir drängten uns aus der Pheripherie des Menſchenknäuels muthig ins Centrum durch. Die Scene hier war folgende. Hoby ſaß in der That auf einem niedern Stuhl, nach der vorigen Aeußerung, dem Angſtſtuhl. Der Prediger und ſein Gehilfe ſtanden ihm links und rechts zur Seite und hielten, oder vielmehr rüttelten und ſchüttelten ihn wie ein Sieb, um ſeine wunderthätigen Circulationen zu befördern. Er lag oder ſtreckte ſich in ihren Armen, und that, zwiſchen den Ausrufungen an Jeſu, ſeine Wiederbelebungsbeichte. Ich habe geſtohlen — Jeſus komm herab! ich war unzüchtig — Jeſus komm herab! — ich entweihte den Sab¬ bath — Jeſus komm herab! u. ſ. w. So oft er eine Sünde nannte, ſtieß er heftig mit dem Bein, gleichſam unter Fußtritten ſie verabſchiedend; bei der Formel: Jeſus komm herab! fuhr er dagegen mit der Hand in die Luft, wie Macbeth der nach dem Dolche haſcht. Dieſe Geberden löſten ſich faſt canoniſch-regelmäßig einander ab: es ſah aus wie Maſchinen¬ arbeit, wie Drahtpuppenbewegung. Ein ähnliches Manöver wiederholte er mit der Stimme. Das Bekenntniß einer Sünde ſtöhnte er dumpf und röchelnd wie ein Sterbender, den Refrain: Jeſus komm herab! ſtieß er gellend heraus wie im aufſchreienden Schmerzgefühl. Dabei athmete ſein heiſerer, offen ſtehender Schlund kurz und lechzend, ſeine Augen rollten wild, ſein Geſicht war aufgedunſen, verdummt und verquollen, Schweiß und Schaum bedeckte es reichlich. Die Umſte¬ henden blickten mit großer Andacht auf dieſes Bild des Abſcheu's. Ich wendete geekelt das Auge davon. Wäre es möglich geweſen, das dichte Gedränge von Menſchen zu durchpirſchen wie ein Wald¬ dickicht, ſo hätte ich ſogleich die Familie Ermar aufgeſucht. Ich brannte vor Ungeduld mich zu überzeugen, daß ihre deutſche Natur entweder ſelbſt ſchon abgeſchreckt ſei, oder mindeſtens meine Sorge für Annette gutheiße. Zufällig ſtanden ſie mir näher als ich ahnte. Indem ich den Kreis überblickte, ſah ich Vater, Mutter und Kind an einem mir entgegengeſetzten Punkte des Cirkels in den vorderſten Reihen ſtehen. Annette hielt ſich ihr Taſchentuch vor die Augen, weil ihr die Sonne grell in's Geſicht ſchien, oder um ſich vor dem barbariſchen Schauſpiele der Wiederbelebung zu ſchützen. Ich mochte gerne das Letztere glau¬ ben. Die Mutter ſtand etwas zurück, ich ſah nur ihre vorgeſtreckten

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/412>, abgerufen am 20.04.2024.