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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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rufen: Warum hast du diese Phantasie! Seit wann sind wir Idealisten?
Seit wann nehmen wir die Menschen nicht wie sie sind, sondern wie
sie sein sollen? Daß ein Mädchen Phantasie hat, können wir nicht
ändern; daß ein Prediger aber den Schwerpunkt seiner Existenz in
diese Phantasie lege, das können wir sicherlich ändern. Man besolde
die Prediger von Staatswegen, anstatt sie auf die Freiwilligkeit der
Gemeinde anzuweisen, und Faune werden sich wieder in christliche Kan¬
zelredner verwandeln. Kurz, man überzeuge sich endlich von der Fehler¬
haftigkeit des Volontary-Systems, das wir stets ebenso eifrig bekämpft
haben, als es unser politischer Gegner befürwortete. Das, wenn wir
moralisiren wollen, ist die einzige gesunde Moral, die wir als praktische
Amerikaner aus diesem Aergerniß ziehen können. Doch, es ist hier
noch von andern Aergernissen die Rede. Die Verirrte z. B. kehrt aus
den Armen des Lasters zurück, und bekennt jetzt, zum Entsetzen der
Welt, nicht das Laster selbst habe sie zum Rückschritt getrieben, sondern
das habe sie mit Schauder und Ekel, ja mit zerrüttender Verzweiflung
erfüllt, daß die gefeiertsten Tugendspiegel Newyorks in hellen Haufen
die Besucher ihres Hauses gewesen! Das ist freilich ungalant von einer
Dame, welche die Galanterie zu ihrer Specialität gemacht. Deßunge¬
achtet finden wir den gellenden Aufschrei über diese Denunciation sehr
bedenklich. Wer nicht direct unter ihr zu leiden hat -- und das Re¬
dactionsbüreau des "Newyorker Herald" hat's hoffentlich nicht -- der
lege seinen Stein getrost wieder hin. Daß eine entdeckte Schande zur
Hölle der allgemeinen Verachtung nicht anders fahren will, als eine Welt
von Mitsündern nach sich ziehend, ist zwar tragisch aber berechtigt.
Weiter erhebt sich gegen diese Miß B** der Vorwurf, daß sie
nach ihrer Bekehrung sich an einem entgegengesetzten Ende unserer
großen Reichsstadt unter fremdem Namen in ein achtbares Haus als
Magd eingeschlichen und dadurch die Heiligkeit eines reinen Familien¬
lebens "gemeuchelmordet". Wer ist noch sicher, heißt es, sein Tisch¬
gebet ohne Frevel zu beten, wenn die Prostitution ihm servirt hat?
Wir gestehen, diese Vorstellung hat etwas unversöhnlich Beleidigendes.
Aber, wenn Gott die Sünde duldet in der Welt, so muß er sie doch
in irgend bestimmten Verhältnissen dulden, und welche bescheidenere
Stellung könnte die Sünde sich auswählen, als die einer bußfertigen
Magd? Das Haus St** gibt übrigens zu, das Mädchen habe sich

rufen: Warum haſt du dieſe Phantaſie! Seit wann ſind wir Idealiſten?
Seit wann nehmen wir die Menſchen nicht wie ſie ſind, ſondern wie
ſie ſein ſollen? Daß ein Mädchen Phantaſie hat, können wir nicht
ändern; daß ein Prediger aber den Schwerpunkt ſeiner Exiſtenz in
dieſe Phantaſie lege, das können wir ſicherlich ändern. Man beſolde
die Prediger von Staatswegen, anſtatt ſie auf die Freiwilligkeit der
Gemeinde anzuweiſen, und Faune werden ſich wieder in chriſtliche Kan¬
zelredner verwandeln. Kurz, man überzeuge ſich endlich von der Fehler¬
haftigkeit des Volontary-Syſtems, das wir ſtets ebenſo eifrig bekämpft
haben, als es unſer politiſcher Gegner befürwortete. Das, wenn wir
moraliſiren wollen, iſt die einzige geſunde Moral, die wir als praktiſche
Amerikaner aus dieſem Aergerniß ziehen können. Doch, es iſt hier
noch von andern Aergerniſſen die Rede. Die Verirrte z. B. kehrt aus
den Armen des Laſters zurück, und bekennt jetzt, zum Entſetzen der
Welt, nicht das Laſter ſelbſt habe ſie zum Rückſchritt getrieben, ſondern
das habe ſie mit Schauder und Ekel, ja mit zerrüttender Verzweiflung
erfüllt, daß die gefeiertſten Tugendſpiegel Newyorks in hellen Haufen
die Beſucher ihres Hauſes geweſen! Das iſt freilich ungalant von einer
Dame, welche die Galanterie zu ihrer Specialität gemacht. Deßunge¬
achtet finden wir den gellenden Aufſchrei über dieſe Denunciation ſehr
bedenklich. Wer nicht direct unter ihr zu leiden hat — und das Re¬
dactionsbüreau des „Newyorker Herald“ hat's hoffentlich nicht — der
lege ſeinen Stein getroſt wieder hin. Daß eine entdeckte Schande zur
Hölle der allgemeinen Verachtung nicht anders fahren will, als eine Welt
von Mitſündern nach ſich ziehend, iſt zwar tragiſch aber berechtigt.
Weiter erhebt ſich gegen dieſe Miß B** der Vorwurf, daß ſie
nach ihrer Bekehrung ſich an einem entgegengeſetzten Ende unſerer
großen Reichsſtadt unter fremdem Namen in ein achtbares Haus als
Magd eingeſchlichen und dadurch die Heiligkeit eines reinen Familien¬
lebens „gemeuchelmordet“. Wer iſt noch ſicher, heißt es, ſein Tiſch¬
gebet ohne Frevel zu beten, wenn die Proſtitution ihm ſervirt hat?
Wir geſtehen, dieſe Vorſtellung hat etwas unverſöhnlich Beleidigendes.
Aber, wenn Gott die Sünde duldet in der Welt, ſo muß er ſie doch
in irgend beſtimmten Verhältniſſen dulden, und welche beſcheidenere
Stellung könnte die Sünde ſich auswählen, als die einer bußfertigen
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[456/0474] rufen: Warum haſt du dieſe Phantaſie! Seit wann ſind wir Idealiſten? Seit wann nehmen wir die Menſchen nicht wie ſie ſind, ſondern wie ſie ſein ſollen? Daß ein Mädchen Phantaſie hat, können wir nicht ändern; daß ein Prediger aber den Schwerpunkt ſeiner Exiſtenz in dieſe Phantaſie lege, das können wir ſicherlich ändern. Man beſolde die Prediger von Staatswegen, anſtatt ſie auf die Freiwilligkeit der Gemeinde anzuweiſen, und Faune werden ſich wieder in chriſtliche Kan¬ zelredner verwandeln. Kurz, man überzeuge ſich endlich von der Fehler¬ haftigkeit des Volontary-Syſtems, das wir ſtets ebenſo eifrig bekämpft haben, als es unſer politiſcher Gegner befürwortete. Das, wenn wir moraliſiren wollen, iſt die einzige geſunde Moral, die wir als praktiſche Amerikaner aus dieſem Aergerniß ziehen können. Doch, es iſt hier noch von andern Aergerniſſen die Rede. Die Verirrte z. B. kehrt aus den Armen des Laſters zurück, und bekennt jetzt, zum Entſetzen der Welt, nicht das Laſter ſelbſt habe ſie zum Rückſchritt getrieben, ſondern das habe ſie mit Schauder und Ekel, ja mit zerrüttender Verzweiflung erfüllt, daß die gefeiertſten Tugendſpiegel Newyorks in hellen Haufen die Beſucher ihres Hauſes geweſen! Das iſt freilich ungalant von einer Dame, welche die Galanterie zu ihrer Specialität gemacht. Deßunge¬ achtet finden wir den gellenden Aufſchrei über dieſe Denunciation ſehr bedenklich. Wer nicht direct unter ihr zu leiden hat — und das Re¬ dactionsbüreau des „Newyorker Herald“ hat's hoffentlich nicht — der lege ſeinen Stein getroſt wieder hin. Daß eine entdeckte Schande zur Hölle der allgemeinen Verachtung nicht anders fahren will, als eine Welt von Mitſündern nach ſich ziehend, iſt zwar tragiſch aber berechtigt. Weiter erhebt ſich gegen dieſe Miß B** der Vorwurf, daß ſie nach ihrer Bekehrung ſich an einem entgegengeſetzten Ende unſerer großen Reichsſtadt unter fremdem Namen in ein achtbares Haus als Magd eingeſchlichen und dadurch die Heiligkeit eines reinen Familien¬ lebens „gemeuchelmordet“. Wer iſt noch ſicher, heißt es, ſein Tiſch¬ gebet ohne Frevel zu beten, wenn die Proſtitution ihm ſervirt hat? Wir geſtehen, dieſe Vorſtellung hat etwas unverſöhnlich Beleidigendes. Aber, wenn Gott die Sünde duldet in der Welt, ſo muß er ſie doch in irgend beſtimmten Verhältniſſen dulden, und welche beſcheidenere Stellung könnte die Sünde ſich auswählen, als die einer bußfertigen Magd? Das Haus St** gibt übrigens zu, das Mädchen habe ſich

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/474>, abgerufen am 19.04.2024.