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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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lassene Sträfling ballte die Faust und sah ihm mit ingrimmigen
Blicken nach.

Eben wollte er mit einer Geberde, welche ein nichts weniger als
anständiges, aber um so aufrichtigeres Gesinnungsbekenntniß enthielt, dem
Zuchthause den Rücken kehren, als er, noch einmal umschauend, einen
Gegenstand gewahrte, der den Haß auf seinem derben lebhaften Ge¬
sichte plötzlich in das entschiedenste Widerspiel verwandelte. Es war
ein Greis, der in der Gebrechlichkeit des Alters an einem Stabe über
den Hof gegangen kam; er trug schwarze Kleidung, und die beiden
weißen Ueberschlägchen, die ihm von der Halsbinde herabhängend auf
der Brust spielten, bezeichneten seinen geistlichen Stand. Seine Er¬
scheinung machte einen sichtlichen Eindruck auf alle Begegnenden; die
ausgelassensten Züchtlinge verstummten, als er im Vorübergehen einen
Blick auf ihre Arbeiten warf; der rohe Aufseher wich ihm von Wei¬
tem aus. Jedem bot er seinen zuvorkommenden Gruß; er war immer
der Erste, der das schwarze Käppchen über den spärlichen weißen
Haaren lüpfte, und doch sollte es ihm offenbar dazu dienen, sein greises
Haupt vor der Herbstluft zu schützen; denn neben dem Käppchen trug
er den dreieckigen Hut unter dem Arm.

Der junge Mensch war unter dem Thore des Zuchthauses stehen
geblieben. In seinen Mienen zuckte es wie Gewitter und Regen¬
schauer; aber zum Weinen schienen diese Züge zu derb. Unwillkürlich
bewegte er den Fuß, um dem alten Geistlichen entgegen zu laufen; er
besann sich jedoch wieder und blieb schüchtern stehen. Als jener näher
kam, zog er die Mütze und trat ihn mit einer linkischen Verbeugung
an. Man konnte denken, wenn er ein Hund gewesen wäre, so wäre
er mit freudigem Winseln an ihm emporgesprungen und hätte ihm
Gesicht und Hände geleckt. So aber war er ein Wesen, um das der
Zuchthausaufseher schwerlich seinen Pudel hergegeben hätte, ein ent¬
lassener Sträfling, ein unbändiger Mensch, voll Trotz und Rohheit;
und doch regte sich in seinem Herzen etwas, das wir auch in den
winselnden Thieren ahnen, und das die Bibel mit den Worten be¬
zeichnet: das Seufzen der Creatur.

Mit Verlaub -- stammelte er -- ich wollte nur dem Herrn Waisen¬
pfarrer Adieu sagen, weil der Herr Waisenpfarrer immer so gut ge¬
gen mich gewesen ist -- ich hätt' ja nicht fortgehen können ohne das.

laſſene Sträfling ballte die Fauſt und ſah ihm mit ingrimmigen
Blicken nach.

Eben wollte er mit einer Geberde, welche ein nichts weniger als
anſtändiges, aber um ſo aufrichtigeres Geſinnungsbekenntniß enthielt, dem
Zuchthauſe den Rücken kehren, als er, noch einmal umſchauend, einen
Gegenſtand gewahrte, der den Haß auf ſeinem derben lebhaften Ge¬
ſichte plötzlich in das entſchiedenſte Widerſpiel verwandelte. Es war
ein Greis, der in der Gebrechlichkeit des Alters an einem Stabe über
den Hof gegangen kam; er trug ſchwarze Kleidung, und die beiden
weißen Ueberſchlägchen, die ihm von der Halsbinde herabhängend auf
der Bruſt ſpielten, bezeichneten ſeinen geiſtlichen Stand. Seine Er¬
ſcheinung machte einen ſichtlichen Eindruck auf alle Begegnenden; die
ausgelaſſenſten Züchtlinge verſtummten, als er im Vorübergehen einen
Blick auf ihre Arbeiten warf; der rohe Aufſeher wich ihm von Wei¬
tem aus. Jedem bot er ſeinen zuvorkommenden Gruß; er war immer
der Erſte, der das ſchwarze Käppchen über den ſpärlichen weißen
Haaren lüpfte, und doch ſollte es ihm offenbar dazu dienen, ſein greiſes
Haupt vor der Herbſtluft zu ſchützen; denn neben dem Käppchen trug
er den dreieckigen Hut unter dem Arm.

Der junge Menſch war unter dem Thore des Zuchthauſes ſtehen
geblieben. In ſeinen Mienen zuckte es wie Gewitter und Regen¬
ſchauer; aber zum Weinen ſchienen dieſe Züge zu derb. Unwillkürlich
bewegte er den Fuß, um dem alten Geiſtlichen entgegen zu laufen; er
beſann ſich jedoch wieder und blieb ſchüchtern ſtehen. Als jener näher
kam, zog er die Mütze und trat ihn mit einer linkiſchen Verbeugung
an. Man konnte denken, wenn er ein Hund geweſen wäre, ſo wäre
er mit freudigem Winſeln an ihm emporgeſprungen und hätte ihm
Geſicht und Hände geleckt. So aber war er ein Weſen, um das der
Zuchthausaufſeher ſchwerlich ſeinen Pudel hergegeben hätte, ein ent¬
laſſener Sträfling, ein unbändiger Menſch, voll Trotz und Rohheit;
und doch regte ſich in ſeinem Herzen etwas, das wir auch in den
winſelnden Thieren ahnen, und das die Bibel mit den Worten be¬
zeichnet: das Seufzen der Creatur.

Mit Verlaub — ſtammelte er — ich wollte nur dem Herrn Waiſen¬
pfarrer Adieu ſagen, weil der Herr Waiſenpfarrer immer ſo gut ge¬
gen mich geweſen iſt — ich hätt' ja nicht fortgehen können ohne das.

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[2/0018] laſſene Sträfling ballte die Fauſt und ſah ihm mit ingrimmigen Blicken nach. Eben wollte er mit einer Geberde, welche ein nichts weniger als anſtändiges, aber um ſo aufrichtigeres Geſinnungsbekenntniß enthielt, dem Zuchthauſe den Rücken kehren, als er, noch einmal umſchauend, einen Gegenſtand gewahrte, der den Haß auf ſeinem derben lebhaften Ge¬ ſichte plötzlich in das entſchiedenſte Widerſpiel verwandelte. Es war ein Greis, der in der Gebrechlichkeit des Alters an einem Stabe über den Hof gegangen kam; er trug ſchwarze Kleidung, und die beiden weißen Ueberſchlägchen, die ihm von der Halsbinde herabhängend auf der Bruſt ſpielten, bezeichneten ſeinen geiſtlichen Stand. Seine Er¬ ſcheinung machte einen ſichtlichen Eindruck auf alle Begegnenden; die ausgelaſſenſten Züchtlinge verſtummten, als er im Vorübergehen einen Blick auf ihre Arbeiten warf; der rohe Aufſeher wich ihm von Wei¬ tem aus. Jedem bot er ſeinen zuvorkommenden Gruß; er war immer der Erſte, der das ſchwarze Käppchen über den ſpärlichen weißen Haaren lüpfte, und doch ſollte es ihm offenbar dazu dienen, ſein greiſes Haupt vor der Herbſtluft zu ſchützen; denn neben dem Käppchen trug er den dreieckigen Hut unter dem Arm. Der junge Menſch war unter dem Thore des Zuchthauſes ſtehen geblieben. In ſeinen Mienen zuckte es wie Gewitter und Regen¬ ſchauer; aber zum Weinen ſchienen dieſe Züge zu derb. Unwillkürlich bewegte er den Fuß, um dem alten Geiſtlichen entgegen zu laufen; er beſann ſich jedoch wieder und blieb ſchüchtern ſtehen. Als jener näher kam, zog er die Mütze und trat ihn mit einer linkiſchen Verbeugung an. Man konnte denken, wenn er ein Hund geweſen wäre, ſo wäre er mit freudigem Winſeln an ihm emporgeſprungen und hätte ihm Geſicht und Hände geleckt. So aber war er ein Weſen, um das der Zuchthausaufſeher ſchwerlich ſeinen Pudel hergegeben hätte, ein ent¬ laſſener Sträfling, ein unbändiger Menſch, voll Trotz und Rohheit; und doch regte ſich in ſeinem Herzen etwas, das wir auch in den winſelnden Thieren ahnen, und das die Bibel mit den Worten be¬ zeichnet: das Seufzen der Creatur. Mit Verlaub — ſtammelte er — ich wollte nur dem Herrn Waiſen¬ pfarrer Adieu ſagen, weil der Herr Waiſenpfarrer immer ſo gut ge¬ gen mich geweſen iſt — ich hätt' ja nicht fortgehen können ohne das.

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/18>, abgerufen am 29.03.2024.