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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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Wochen als den Jerg ein Jahr und vielleicht drüber missen, denn Der
ist doch am kleinen Finger mehr, als du am ganzen Leib.

Der Andre schwieg stöckisch. Der Wächter kam wieder herbei und
die Wanderung wurde fortgesetzt.

Als sie in Ludwigsburg einzogen, und sich dem Zuchthause näher¬
ten, fanden sie den Weg durch eine große Menschenmenge gesperrt.
Ein Leichenzug kam daher, umgeben von zahlreichen Zuschauern und
Zuschauerinnen, die beinahe mehr Trauer als Neugierde blicken ließen.
Hinter dem Sarge ging zunächst eine Schaar von Waisenkindern in
ihrer grauen Tracht; ihnen folgte eine lange Begleitung von Män¬
nern, geistliche und weltliche Beamte an ihrer Spitze; nach einem
größeren Zwischenraume kam noch ein Zug Strafgefangener in der
Zuchthauskleidung, von Aufsehern bewacht. Alle hatten die Haltung
von Leidtragenden, und selbst in den Reihen dieser vom Leben halb
ausgestoßenen Männer sah man nasse Augen.

Wen begräbt man hier? fragte der Führer der beiden einzulie¬
fernden Sträflinge eine sich herzudrängende Frau.

Den alten Waisenpfarrer, war die Antwort.

Friedrich drückte die Hände gegen die Brust. So manchmal, wenn
es ihm in der Welt weh und bange war, hatte er sich nach dieser
Heimath, die man in der Welt eine Schule des Lasters nannte, zurück¬
gesehnt, und nun war der gute Geist, der darin waltete, auf immer
dahin. Die Welt schien ihm ausgestorben. Er kehrte sich ab und
weinte bitterlich. Niemand sah diesen Schmerz, welchen er bei seinem
Einzug in das Zuchthaus, obgleich ihn der Gedanke an sein Weib
und sein Kind beinahe zu Boden drückte, hinter einer dumpfen
Gleichgiltigkeit verbarg.


Wochen als den Jerg ein Jahr und vielleicht drüber miſſen, denn Der
iſt doch am kleinen Finger mehr, als du am ganzen Leib.

Der Andre ſchwieg ſtöckiſch. Der Wächter kam wieder herbei und
die Wanderung wurde fortgeſetzt.

Als ſie in Ludwigsburg einzogen, und ſich dem Zuchthauſe näher¬
ten, fanden ſie den Weg durch eine große Menſchenmenge geſperrt.
Ein Leichenzug kam daher, umgeben von zahlreichen Zuſchauern und
Zuſchauerinnen, die beinahe mehr Trauer als Neugierde blicken ließen.
Hinter dem Sarge ging zunächſt eine Schaar von Waiſenkindern in
ihrer grauen Tracht; ihnen folgte eine lange Begleitung von Män¬
nern, geiſtliche und weltliche Beamte an ihrer Spitze; nach einem
größeren Zwiſchenraume kam noch ein Zug Strafgefangener in der
Zuchthauskleidung, von Aufſehern bewacht. Alle hatten die Haltung
von Leidtragenden, und ſelbſt in den Reihen dieſer vom Leben halb
ausgeſtoßenen Männer ſah man naſſe Augen.

Wen begräbt man hier? fragte der Führer der beiden einzulie¬
fernden Sträflinge eine ſich herzudrängende Frau.

Den alten Waiſenpfarrer, war die Antwort.

Friedrich drückte die Hände gegen die Bruſt. So manchmal, wenn
es ihm in der Welt weh und bange war, hatte er ſich nach dieſer
Heimath, die man in der Welt eine Schule des Laſters nannte, zurück¬
geſehnt, und nun war der gute Geiſt, der darin waltete, auf immer
dahin. Die Welt ſchien ihm ausgeſtorben. Er kehrte ſich ab und
weinte bitterlich. Niemand ſah dieſen Schmerz, welchen er bei ſeinem
Einzug in das Zuchthaus, obgleich ihn der Gedanke an ſein Weib
und ſein Kind beinahe zu Boden drückte, hinter einer dumpfen
Gleichgiltigkeit verbarg.


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[285/0301] Wochen als den Jerg ein Jahr und vielleicht drüber miſſen, denn Der iſt doch am kleinen Finger mehr, als du am ganzen Leib. Der Andre ſchwieg ſtöckiſch. Der Wächter kam wieder herbei und die Wanderung wurde fortgeſetzt. Als ſie in Ludwigsburg einzogen, und ſich dem Zuchthauſe näher¬ ten, fanden ſie den Weg durch eine große Menſchenmenge geſperrt. Ein Leichenzug kam daher, umgeben von zahlreichen Zuſchauern und Zuſchauerinnen, die beinahe mehr Trauer als Neugierde blicken ließen. Hinter dem Sarge ging zunächſt eine Schaar von Waiſenkindern in ihrer grauen Tracht; ihnen folgte eine lange Begleitung von Män¬ nern, geiſtliche und weltliche Beamte an ihrer Spitze; nach einem größeren Zwiſchenraume kam noch ein Zug Strafgefangener in der Zuchthauskleidung, von Aufſehern bewacht. Alle hatten die Haltung von Leidtragenden, und ſelbſt in den Reihen dieſer vom Leben halb ausgeſtoßenen Männer ſah man naſſe Augen. Wen begräbt man hier? fragte der Führer der beiden einzulie¬ fernden Sträflinge eine ſich herzudrängende Frau. Den alten Waiſenpfarrer, war die Antwort. Friedrich drückte die Hände gegen die Bruſt. So manchmal, wenn es ihm in der Welt weh und bange war, hatte er ſich nach dieſer Heimath, die man in der Welt eine Schule des Laſters nannte, zurück¬ geſehnt, und nun war der gute Geiſt, der darin waltete, auf immer dahin. Die Welt ſchien ihm ausgeſtorben. Er kehrte ſich ab und weinte bitterlich. Niemand ſah dieſen Schmerz, welchen er bei ſeinem Einzug in das Zuchthaus, obgleich ihn der Gedanke an ſein Weib und ſein Kind beinahe zu Boden drückte, hinter einer dumpfen Gleichgiltigkeit verbarg.

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/301>, abgerufen am 29.03.2024.