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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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39.

Rein und tiefblau, wie er nur in den Mittsommertagen ist,
wölbte sich der Morgenhimmel über der alten winkeligen Stadt. Die
Sonne brannte schon in den ersten Morgenstunden und verkündigte
einen heißen Tag. Auf dem Marktplatz vor dem Rathhause stand
die Menge dicht gedrängt, in gedankenloser Neugier ein trauriges
Schauspiel erwartend, das ihr Ersatz für die geistigen Bedürfnisse
bieten sollte, die sie durch die sonntägliche Predigt und durch die spär¬
lichen bürgerlichen Vorkommnisse nicht zureichend befriedigt fühlte.
Sie konnte nicht nach ihrer Weise hin und herwogen, denn es waren
ihrer zu Viele, die in festgekeilter Masse geduldig ausharren mußten
und nach den Rathhausfenstern emporsahen. Endlich glaubte man
an den Fenstern eine Bewegung wahrzunehmen und die Bewegung
theilte sich alsbald der Menge mit, die nach der Thüre des Rathhauses
drängte. Ein Bürger, der den Zuschauern im Saale droben voraus¬
geeilt war, stürzte heraus. Es wird gleich angehen, antwortete er
auf die Fragen der Vordersten, die ihn bestürmten: aber das ist ein
Mensch! Ihr hättet ihn sehen sollen, wie man ihm das Urtheil vor¬
gelesen hat. Alles hat gezittert, das ganze Gericht ist erblaßt, nur
er ist allein ruhig und unerschrocken dagestanden, und wie's im Urtheil
geheißen hat: der Erzböswicht! hat er mit lauter Stimme und lächelnd
gesagt: Der bin ich gewesen.

Eine noch stärkere Bewegung kam unter die Menge, welche das
Geräusch der Kommenden aus dem Innern des Rathhauses vernahm.
Sie wich zurück, denn die Ersten, die herauskamen, waren Gerichts¬
diener, die sie barsch und grob auf die Seite trieben. Auf diese folgte,
von Wachen umgeben, gefesselt und gebunden, der arme Sünder, der
aber nicht wie ein solcher aussah. Sein Gang war ruhig, wie der
eines Bürgers, der seinen Geschäften nachgeht, seine Haltung aufrecht,
aber nicht gezwungen, und nur die Blässe seines Angesichts, und der

39.

Rein und tiefblau, wie er nur in den Mittſommertagen iſt,
wölbte ſich der Morgenhimmel über der alten winkeligen Stadt. Die
Sonne brannte ſchon in den erſten Morgenſtunden und verkündigte
einen heißen Tag. Auf dem Marktplatz vor dem Rathhauſe ſtand
die Menge dicht gedrängt, in gedankenloſer Neugier ein trauriges
Schauſpiel erwartend, das ihr Erſatz für die geiſtigen Bedürfniſſe
bieten ſollte, die ſie durch die ſonntägliche Predigt und durch die ſpär¬
lichen bürgerlichen Vorkommniſſe nicht zureichend befriedigt fühlte.
Sie konnte nicht nach ihrer Weiſe hin und herwogen, denn es waren
ihrer zu Viele, die in feſtgekeilter Maſſe geduldig ausharren mußten
und nach den Rathhausfenſtern emporſahen. Endlich glaubte man
an den Fenſtern eine Bewegung wahrzunehmen und die Bewegung
theilte ſich alsbald der Menge mit, die nach der Thüre des Rathhauſes
drängte. Ein Bürger, der den Zuſchauern im Saale droben voraus¬
geeilt war, ſtürzte heraus. Es wird gleich angehen, antwortete er
auf die Fragen der Vorderſten, die ihn beſtürmten: aber das iſt ein
Menſch! Ihr hättet ihn ſehen ſollen, wie man ihm das Urtheil vor¬
geleſen hat. Alles hat gezittert, das ganze Gericht iſt erblaßt, nur
er iſt allein ruhig und unerſchrocken dageſtanden, und wie's im Urtheil
geheißen hat: der Erzböswicht! hat er mit lauter Stimme und lächelnd
geſagt: Der bin ich geweſen.

Eine noch ſtärkere Bewegung kam unter die Menge, welche das
Geräuſch der Kommenden aus dem Innern des Rathhauſes vernahm.
Sie wich zurück, denn die Erſten, die herauskamen, waren Gerichts¬
diener, die ſie barſch und grob auf die Seite trieben. Auf dieſe folgte,
von Wachen umgeben, gefeſſelt und gebunden, der arme Sünder, der
aber nicht wie ein ſolcher ausſah. Sein Gang war ruhig, wie der
eines Bürgers, der ſeinen Geſchäften nachgeht, ſeine Haltung aufrecht,
aber nicht gezwungen, und nur die Bläſſe ſeines Angeſichts, und der

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[503/0519] 39. Rein und tiefblau, wie er nur in den Mittſommertagen iſt, wölbte ſich der Morgenhimmel über der alten winkeligen Stadt. Die Sonne brannte ſchon in den erſten Morgenſtunden und verkündigte einen heißen Tag. Auf dem Marktplatz vor dem Rathhauſe ſtand die Menge dicht gedrängt, in gedankenloſer Neugier ein trauriges Schauſpiel erwartend, das ihr Erſatz für die geiſtigen Bedürfniſſe bieten ſollte, die ſie durch die ſonntägliche Predigt und durch die ſpär¬ lichen bürgerlichen Vorkommniſſe nicht zureichend befriedigt fühlte. Sie konnte nicht nach ihrer Weiſe hin und herwogen, denn es waren ihrer zu Viele, die in feſtgekeilter Maſſe geduldig ausharren mußten und nach den Rathhausfenſtern emporſahen. Endlich glaubte man an den Fenſtern eine Bewegung wahrzunehmen und die Bewegung theilte ſich alsbald der Menge mit, die nach der Thüre des Rathhauſes drängte. Ein Bürger, der den Zuſchauern im Saale droben voraus¬ geeilt war, ſtürzte heraus. Es wird gleich angehen, antwortete er auf die Fragen der Vorderſten, die ihn beſtürmten: aber das iſt ein Menſch! Ihr hättet ihn ſehen ſollen, wie man ihm das Urtheil vor¬ geleſen hat. Alles hat gezittert, das ganze Gericht iſt erblaßt, nur er iſt allein ruhig und unerſchrocken dageſtanden, und wie's im Urtheil geheißen hat: der Erzböswicht! hat er mit lauter Stimme und lächelnd geſagt: Der bin ich geweſen. Eine noch ſtärkere Bewegung kam unter die Menge, welche das Geräuſch der Kommenden aus dem Innern des Rathhauſes vernahm. Sie wich zurück, denn die Erſten, die herauskamen, waren Gerichts¬ diener, die ſie barſch und grob auf die Seite trieben. Auf dieſe folgte, von Wachen umgeben, gefeſſelt und gebunden, der arme Sünder, der aber nicht wie ein ſolcher ausſah. Sein Gang war ruhig, wie der eines Bürgers, der ſeinen Geſchäften nachgeht, ſeine Haltung aufrecht, aber nicht gezwungen, und nur die Bläſſe ſeines Angeſichts, und der

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 503. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/519>, abgerufen am 28.03.2024.