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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877.

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§. 60. Die Wirkungen der Reichsgesetze.
Thätigkeit des Staates, seine Verfassung, die Zusammensetzung,
Geschäfte und Geschäftsformen der Behörden, die wirthschaftliche
Ordnung des Staatswesens, den Betrieb der Staatsanstalten u. s. w.
Solche Gesetze berühren den Unterthan des Staates unmittelbar
gar nicht und sind auf ihn und seine individuellen Rechtsbeziehun-
gen unanwendbar; er wird von den Wirkungen dieser Gesetze nur
dadurch mitbetroffen, daß er in dem Staatswesen lebt, in welchem
jene Gesetze gelten.

Diese Gesetze sind scheinbar Befehle des Staates an sich selbst.
Da jeder wirksame Befehl aber ein Ueber- und Unterordnungs-
Verhältniß voraussetzt, einen mit der Gewalt zum Befehlen aus-
gestatteten Herrn und einen zum Gehorsam verpflichteten Unter-
gebenen, so kam man wegen jenes Scheines dazu, zwischen dem
Staat, dem der Befehl ertheilt wird, und dem Staate, welcher den
Befehl erläßt, zu unterscheiden, oder mit andern Worten: die "ge-
setzgebende Gewalt" für die höchste Gewalt im Staate zu erklären,
welcher die anderen "Gewalten" gehorchen müssen, also unterge-
ordnet seien 1). Diese Theorie löst die Einheitlichkeit des Staates
auf und steht im Widerspruch mit dem Begriff der Souveränetät,
der die Untheilbarkeit in sich schließt. Die gesetzgebende Gewalt
ist identisch mit der Staatsgewalt und kann demnach nicht in my-
stischer und transcendentaler Weise über der Staatsgewalt schweben.
Jene Gesetze sind auch in der That nicht Befehle, welche an die
Staatsgewalt gerichtet sind, sondern Befehle der Staatsgewalt an
die Behörden und Beamten und an die übrigen Körperschaften und
Personen, welche staatliche Funktionen zu verrichten haben. Sie
enthalten die Anordnungen des Staates darüber, wie diese Funk-
tionen zu versehen sind; sie sind der maßgebende Ausdruck des
wirklichen und wahren Willens des Staates. Wenn diese Gesetze
von der Regierung oder der Volksvertretung, von Behörden und
Beamten verletzt werden, so tritt nicht die Staatsgewalt mit sich
selbst in Widerspruch, sondern die Personen, welche das Gesetz,
statt es zur Anwendung zu bringen, verletzen, treten in Widerspruch
mit der Staatsgewalt. Die Staatsgewalt in abstracto ist durch
das Gesetz niemals gebunden, wohl aber Jeder, der die Staats-

1) Vrgl. z. B. Schulze, Preuß. Staatsr. II. S. 206. Westerkamp
S. 93.

§. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze.
Thätigkeit des Staates, ſeine Verfaſſung, die Zuſammenſetzung,
Geſchäfte und Geſchäftsformen der Behörden, die wirthſchaftliche
Ordnung des Staatsweſens, den Betrieb der Staatsanſtalten u. ſ. w.
Solche Geſetze berühren den Unterthan des Staates unmittelbar
gar nicht und ſind auf ihn und ſeine individuellen Rechtsbeziehun-
gen unanwendbar; er wird von den Wirkungen dieſer Geſetze nur
dadurch mitbetroffen, daß er in dem Staatsweſen lebt, in welchem
jene Geſetze gelten.

Dieſe Geſetze ſind ſcheinbar Befehle des Staates an ſich ſelbſt.
Da jeder wirkſame Befehl aber ein Ueber- und Unterordnungs-
Verhältniß vorausſetzt, einen mit der Gewalt zum Befehlen aus-
geſtatteten Herrn und einen zum Gehorſam verpflichteten Unter-
gebenen, ſo kam man wegen jenes Scheines dazu, zwiſchen dem
Staat, dem der Befehl ertheilt wird, und dem Staate, welcher den
Befehl erläßt, zu unterſcheiden, oder mit andern Worten: die „ge-
ſetzgebende Gewalt“ für die höchſte Gewalt im Staate zu erklären,
welcher die anderen „Gewalten“ gehorchen müſſen, alſo unterge-
ordnet ſeien 1). Dieſe Theorie löst die Einheitlichkeit des Staates
auf und ſteht im Widerſpruch mit dem Begriff der Souveränetät,
der die Untheilbarkeit in ſich ſchließt. Die geſetzgebende Gewalt
iſt identiſch mit der Staatsgewalt und kann demnach nicht in my-
ſtiſcher und tranſcendentaler Weiſe über der Staatsgewalt ſchweben.
Jene Geſetze ſind auch in der That nicht Befehle, welche an die
Staatsgewalt gerichtet ſind, ſondern Befehle der Staatsgewalt an
die Behörden und Beamten und an die übrigen Körperſchaften und
Perſonen, welche ſtaatliche Funktionen zu verrichten haben. Sie
enthalten die Anordnungen des Staates darüber, wie dieſe Funk-
tionen zu verſehen ſind; ſie ſind der maßgebende Ausdruck des
wirklichen und wahren Willens des Staates. Wenn dieſe Geſetze
von der Regierung oder der Volksvertretung, von Behörden und
Beamten verletzt werden, ſo tritt nicht die Staatsgewalt mit ſich
ſelbſt in Widerſpruch, ſondern die Perſonen, welche das Geſetz,
ſtatt es zur Anwendung zu bringen, verletzen, treten in Widerſpruch
mit der Staatsgewalt. Die Staatsgewalt in abstracto iſt durch
das Geſetz niemals gebunden, wohl aber Jeder, der die Staats-

1) Vrgl. z. B. Schulze, Preuß. Staatsr. II. S. 206. Weſterkamp
S. 93.
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[94/0108] §. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze. Thätigkeit des Staates, ſeine Verfaſſung, die Zuſammenſetzung, Geſchäfte und Geſchäftsformen der Behörden, die wirthſchaftliche Ordnung des Staatsweſens, den Betrieb der Staatsanſtalten u. ſ. w. Solche Geſetze berühren den Unterthan des Staates unmittelbar gar nicht und ſind auf ihn und ſeine individuellen Rechtsbeziehun- gen unanwendbar; er wird von den Wirkungen dieſer Geſetze nur dadurch mitbetroffen, daß er in dem Staatsweſen lebt, in welchem jene Geſetze gelten. Dieſe Geſetze ſind ſcheinbar Befehle des Staates an ſich ſelbſt. Da jeder wirkſame Befehl aber ein Ueber- und Unterordnungs- Verhältniß vorausſetzt, einen mit der Gewalt zum Befehlen aus- geſtatteten Herrn und einen zum Gehorſam verpflichteten Unter- gebenen, ſo kam man wegen jenes Scheines dazu, zwiſchen dem Staat, dem der Befehl ertheilt wird, und dem Staate, welcher den Befehl erläßt, zu unterſcheiden, oder mit andern Worten: die „ge- ſetzgebende Gewalt“ für die höchſte Gewalt im Staate zu erklären, welcher die anderen „Gewalten“ gehorchen müſſen, alſo unterge- ordnet ſeien 1). Dieſe Theorie löst die Einheitlichkeit des Staates auf und ſteht im Widerſpruch mit dem Begriff der Souveränetät, der die Untheilbarkeit in ſich ſchließt. Die geſetzgebende Gewalt iſt identiſch mit der Staatsgewalt und kann demnach nicht in my- ſtiſcher und tranſcendentaler Weiſe über der Staatsgewalt ſchweben. Jene Geſetze ſind auch in der That nicht Befehle, welche an die Staatsgewalt gerichtet ſind, ſondern Befehle der Staatsgewalt an die Behörden und Beamten und an die übrigen Körperſchaften und Perſonen, welche ſtaatliche Funktionen zu verrichten haben. Sie enthalten die Anordnungen des Staates darüber, wie dieſe Funk- tionen zu verſehen ſind; ſie ſind der maßgebende Ausdruck des wirklichen und wahren Willens des Staates. Wenn dieſe Geſetze von der Regierung oder der Volksvertretung, von Behörden und Beamten verletzt werden, ſo tritt nicht die Staatsgewalt mit ſich ſelbſt in Widerſpruch, ſondern die Perſonen, welche das Geſetz, ſtatt es zur Anwendung zu bringen, verletzen, treten in Widerſpruch mit der Staatsgewalt. Die Staatsgewalt in abstracto iſt durch das Geſetz niemals gebunden, wohl aber Jeder, der die Staats- 1) Vrgl. z. B. Schulze, Preuß. Staatsr. II. S. 206. Weſterkamp S. 93.

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/108>, abgerufen am 23.04.2024.