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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877.

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§. 61. Reichsgesetzgebung nnd Landesgesetzgebung.
lungsfreiheit der Individuen, sondern auch für die der Glied-
staaten ziehen.

So haben auch die Reichsgesetze zum großen Theil einen In-
halt, durch welchen sie den Einzelstaaten etwas erlauben,
gebieten oder verbieten. Der in dem Reichsgesetz enthaltene Be-
fehl ist in überaus zahlreichen Fällen ein Befehl an die Einzel-
staaten über die Ausübung oder Nichtausübung von Hoheitsrechten,
über die Entfaltung oder Unterlassung einer staatlichen Thätigkeit.
Es tritt uns hier der Gegensatz zwischen dem Bundesstaat und
dem Staatenbund besonders scharf entgegen. Auch die von einem
Staatenbund aufgestellten Rechtsregeln können für die betheiligten
Staaten verbindlich sein; aber ihre Verbindlichkeit beruht nicht
auf dem Befehl einer übergeordneten Gewalt, sondern auf dem
Consense der Mitglieds-Staaten, und zwar auch dann, wenn
sie durch die Majorität beschlossen werden. Ihre Verbindlichkeit
ist die des Vertrages. Der einzelne Staat erfüllt eine ver-
tragsmäßige Pflicht, indem er den Bundesbeschluß zur Ausfüh-
führung bringt. Hierzu ist demnach ein Willensact des Einzel-
staates erforderlich, nämlich der Befehl des Einzelstaates an seine
Behörden und Unterthanen, den Bundesbeschluß zu befolgen; oder
mit andern Worten: es muß ein Gesetzgebungs-Akt des Einzel-
staates hinzukommen, durch welchen der Bundesbeschluß für den
Einzelstaat in ein Gesetz umgewandelt wird. Formell kann
dieser Akt in der bloßen Verkündigung des Bundesbeschlusses
bestehen, deren juristisches Wesen -- wie oben ausgeführt wor-
den ist -- nicht in der Bekanntmachung des Gesetzes-In-
halts, sondern in der öffentlichen Erklärung des Gesetzes-Befehls
besteht.

Im Bundesstaat dagegen erlangt das Bundesgesetz seine recht-
liche Geltung und verbindliche Kraft ohne einen Willensakt des
Einzelstaates. Der dem Reiche angehörende Gliedstaat wird von
der Reichsgewalt beherrscht und ergriffen, wie der einzelne Unter-
than. Die Gesetzes-Befehle des Reiches müssen von dem Einzel-
staat und seinen Behörden befolgt und ausgeführt werden. Einer
vertragsmäßigen Pflicht gegenüber besteht die Wahl der Willens-
entschließung, ob man sie erfüllen oder ob man sie nicht erfüllen
und die Folgen der Nichterfüllung auf sich nehmen wolle; dagegen
das Gesetz des Reiches entfaltet seine rechtliche Kraft ohne Rück-

§. 61. Reichsgeſetzgebung nnd Landesgeſetzgebung.
lungsfreiheit der Individuen, ſondern auch für die der Glied-
ſtaaten ziehen.

So haben auch die Reichsgeſetze zum großen Theil einen In-
halt, durch welchen ſie den Einzelſtaaten etwas erlauben,
gebieten oder verbieten. Der in dem Reichsgeſetz enthaltene Be-
fehl iſt in überaus zahlreichen Fällen ein Befehl an die Einzel-
ſtaaten über die Ausübung oder Nichtausübung von Hoheitsrechten,
über die Entfaltung oder Unterlaſſung einer ſtaatlichen Thätigkeit.
Es tritt uns hier der Gegenſatz zwiſchen dem Bundesſtaat und
dem Staatenbund beſonders ſcharf entgegen. Auch die von einem
Staatenbund aufgeſtellten Rechtsregeln können für die betheiligten
Staaten verbindlich ſein; aber ihre Verbindlichkeit beruht nicht
auf dem Befehl einer übergeordneten Gewalt, ſondern auf dem
Conſenſe der Mitglieds-Staaten, und zwar auch dann, wenn
ſie durch die Majorität beſchloſſen werden. Ihre Verbindlichkeit
iſt die des Vertrages. Der einzelne Staat erfüllt eine ver-
tragsmäßige Pflicht, indem er den Bundesbeſchluß zur Ausfüh-
führung bringt. Hierzu iſt demnach ein Willensact des Einzel-
ſtaates erforderlich, nämlich der Befehl des Einzelſtaates an ſeine
Behörden und Unterthanen, den Bundesbeſchluß zu befolgen; oder
mit andern Worten: es muß ein Geſetzgebungs-Akt des Einzel-
ſtaates hinzukommen, durch welchen der Bundesbeſchluß für den
Einzelſtaat in ein Geſetz umgewandelt wird. Formell kann
dieſer Akt in der bloßen Verkündigung des Bundesbeſchluſſes
beſtehen, deren juriſtiſches Weſen — wie oben ausgeführt wor-
den iſt — nicht in der Bekanntmachung des Geſetzes-In-
halts, ſondern in der öffentlichen Erklärung des Geſetzes-Befehls
beſteht.

Im Bundesſtaat dagegen erlangt das Bundesgeſetz ſeine recht-
liche Geltung und verbindliche Kraft ohne einen Willensakt des
Einzelſtaates. Der dem Reiche angehörende Gliedſtaat wird von
der Reichsgewalt beherrſcht und ergriffen, wie der einzelne Unter-
than. Die Geſetzes-Befehle des Reiches müſſen von dem Einzel-
ſtaat und ſeinen Behörden befolgt und ausgeführt werden. Einer
vertragsmäßigen Pflicht gegenüber beſteht die Wahl der Willens-
entſchließung, ob man ſie erfüllen oder ob man ſie nicht erfüllen
und die Folgen der Nichterfüllung auf ſich nehmen wolle; dagegen
das Geſetz des Reiches entfaltet ſeine rechtliche Kraft ohne Rück-

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[107/0121] §. 61. Reichsgeſetzgebung nnd Landesgeſetzgebung. lungsfreiheit der Individuen, ſondern auch für die der Glied- ſtaaten ziehen. So haben auch die Reichsgeſetze zum großen Theil einen In- halt, durch welchen ſie den Einzelſtaaten etwas erlauben, gebieten oder verbieten. Der in dem Reichsgeſetz enthaltene Be- fehl iſt in überaus zahlreichen Fällen ein Befehl an die Einzel- ſtaaten über die Ausübung oder Nichtausübung von Hoheitsrechten, über die Entfaltung oder Unterlaſſung einer ſtaatlichen Thätigkeit. Es tritt uns hier der Gegenſatz zwiſchen dem Bundesſtaat und dem Staatenbund beſonders ſcharf entgegen. Auch die von einem Staatenbund aufgeſtellten Rechtsregeln können für die betheiligten Staaten verbindlich ſein; aber ihre Verbindlichkeit beruht nicht auf dem Befehl einer übergeordneten Gewalt, ſondern auf dem Conſenſe der Mitglieds-Staaten, und zwar auch dann, wenn ſie durch die Majorität beſchloſſen werden. Ihre Verbindlichkeit iſt die des Vertrages. Der einzelne Staat erfüllt eine ver- tragsmäßige Pflicht, indem er den Bundesbeſchluß zur Ausfüh- führung bringt. Hierzu iſt demnach ein Willensact des Einzel- ſtaates erforderlich, nämlich der Befehl des Einzelſtaates an ſeine Behörden und Unterthanen, den Bundesbeſchluß zu befolgen; oder mit andern Worten: es muß ein Geſetzgebungs-Akt des Einzel- ſtaates hinzukommen, durch welchen der Bundesbeſchluß für den Einzelſtaat in ein Geſetz umgewandelt wird. Formell kann dieſer Akt in der bloßen Verkündigung des Bundesbeſchluſſes beſtehen, deren juriſtiſches Weſen — wie oben ausgeführt wor- den iſt — nicht in der Bekanntmachung des Geſetzes-In- halts, ſondern in der öffentlichen Erklärung des Geſetzes-Befehls beſteht. Im Bundesſtaat dagegen erlangt das Bundesgeſetz ſeine recht- liche Geltung und verbindliche Kraft ohne einen Willensakt des Einzelſtaates. Der dem Reiche angehörende Gliedſtaat wird von der Reichsgewalt beherrſcht und ergriffen, wie der einzelne Unter- than. Die Geſetzes-Befehle des Reiches müſſen von dem Einzel- ſtaat und ſeinen Behörden befolgt und ausgeführt werden. Einer vertragsmäßigen Pflicht gegenüber beſteht die Wahl der Willens- entſchließung, ob man ſie erfüllen oder ob man ſie nicht erfüllen und die Folgen der Nichterfüllung auf ſich nehmen wolle; dagegen das Geſetz des Reiches entfaltet ſeine rechtliche Kraft ohne Rück-

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/121>, abgerufen am 28.03.2024.