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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877.

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§. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes.

Die wichtigste aller Deutschen Verfassungen, die Preußische
Verf.-Urk. v. 31. Januar 1850 folgte der herrschenden Theorie
von der Gleichartigkeit der Funktionen, welche der König und der
Landtag hinsichtlich der Gesetzgebung auszuüben haben, indem sie
im Art. 62 bestimmte:

"Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den
König und durch zwei Kammern ausgeübt. Die Uebereinstimmung
des Königs und beider Kammern ist zu jedem Gesetze erforderlich."
Dieser Bestimmung gegenüber suchte man die Untheilbarkeit der
dem Könige zustehenden Souveränetät durch die theoretische Unter-
scheidung zwischen jus und exercitium iuris zu retten. Das Recht
der Gesetzgebung stehe dem Könige zu, die Ausübung erfolge in
Gemeinschaft mit dem Landtage 1).

Und doch konnte man sich nicht verhehlen, daß nur die
Sanction einen Entwurf zum Gesetz erhebt, an dieser Sanction
aber der Landtag weder quoad jus noch quoad exercitium einen
Antheil hat 2).

Die Fassung der Preuß. Verf.-Urk. ist auch für die Ausdrucks-
weise der Norddeutschen Bundesverfassung und der Reichsverf. von
maßgebendem Einfluß geworden; der Art. 5 Abs. 1 der R.-V. lehnt
sich eng an den Art. 62 der Preuß. V.-U. an. Um so weniger
darf man sich dieser Bestimmung gegenüber mit einer bloßen Wort-
Interpretation begnügen.

Der Wortlaut des Art. 5, wonach die Uebereinstimmung der
Mehrheitsbeschlüsse des Bundesrathes und des Reichstags zu einem
Reichsgesetze erforderlich und ausreichend ist, widerspricht nicht nur
der Natur der Sache, sondern auch den Anordnungen der Artikel
2 und 17 der R.-V. Uebereinstimmende Mehrheitsbeschlüsse der
beiden Versammlungen sind zu einem Reichsgesetze zwar erforder-
lich, aber nicht ausreichend. Wäre dies der Fall, so müßte eine

1) v. Rönne, Preuß. Staatsr. I. 1. S. 172 erklärt, die gesetzgebende
Gewalt sei ein Ausfluß der Staatsgewalt und stehe daher dem Könige, als
dem Oberhaupte der ungetheilten Staatsgewalt zu. Gleich darauf S. 176
aber heißt es, die gesetzgebende Gewalt stehe dem Könige und den bei-
den Kammern gemeinschaftlich
zu und es wird daraus sogar de-
ducirt, daß es nicht einmal möglich sei, die Ausübung der Gesetzgebungsgewalt
dem Könige zu delegiren.
2) Vrgl. besonders Schultze, Preuß. Staatsr. I. S. 159, II. S. 221
und v. Rönne a. a. O. I. 1 §. 48 (S. 197 Note 8).
§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.

Die wichtigſte aller Deutſchen Verfaſſungen, die Preußiſche
Verf.-Urk. v. 31. Januar 1850 folgte der herrſchenden Theorie
von der Gleichartigkeit der Funktionen, welche der König und der
Landtag hinſichtlich der Geſetzgebung auszuüben haben, indem ſie
im Art. 62 beſtimmte:

„Die geſetzgebende Gewalt wird gemeinſchaftlich durch den
König und durch zwei Kammern ausgeübt. Die Uebereinſtimmung
des Königs und beider Kammern iſt zu jedem Geſetze erforderlich.“
Dieſer Beſtimmung gegenüber ſuchte man die Untheilbarkeit der
dem Könige zuſtehenden Souveränetät durch die theoretiſche Unter-
ſcheidung zwiſchen jus und exercitium iuris zu retten. Das Recht
der Geſetzgebung ſtehe dem Könige zu, die Ausübung erfolge in
Gemeinſchaft mit dem Landtage 1).

Und doch konnte man ſich nicht verhehlen, daß nur die
Sanction einen Entwurf zum Geſetz erhebt, an dieſer Sanction
aber der Landtag weder quoad jus noch quoad exercitium einen
Antheil hat 2).

Die Faſſung der Preuß. Verf.-Urk. iſt auch für die Ausdrucks-
weiſe der Norddeutſchen Bundesverfaſſung und der Reichsverf. von
maßgebendem Einfluß geworden; der Art. 5 Abſ. 1 der R.-V. lehnt
ſich eng an den Art. 62 der Preuß. V.-U. an. Um ſo weniger
darf man ſich dieſer Beſtimmung gegenüber mit einer bloßen Wort-
Interpretation begnügen.

Der Wortlaut des Art. 5, wonach die Uebereinſtimmung der
Mehrheitsbeſchlüſſe des Bundesrathes und des Reichstags zu einem
Reichsgeſetze erforderlich und ausreichend iſt, widerſpricht nicht nur
der Natur der Sache, ſondern auch den Anordnungen der Artikel
2 und 17 der R.-V. Uebereinſtimmende Mehrheitsbeſchlüſſe der
beiden Verſammlungen ſind zu einem Reichsgeſetze zwar erforder-
lich, aber nicht ausreichend. Wäre dies der Fall, ſo müßte eine

1) v. Rönne, Preuß. Staatsr. I. 1. S. 172 erklärt, die geſetzgebende
Gewalt ſei ein Ausfluß der Staatsgewalt und ſtehe daher dem Könige, als
dem Oberhaupte der ungetheilten Staatsgewalt zu. Gleich darauf S. 176
aber heißt es, die geſetzgebende Gewalt ſtehe dem Könige und den bei-
den Kammern gemeinſchaftlich
zu und es wird daraus ſogar de-
ducirt, daß es nicht einmal möglich ſei, die Ausübung der Geſetzgebungsgewalt
dem Könige zu delegiren.
2) Vrgl. beſonders Schultze, Preuß. Staatsr. I. S. 159, II. S. 221
und v. Rönne a. a. O. I. 1 §. 48 (S. 197 Note 8).
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[9/0023] §. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes. Die wichtigſte aller Deutſchen Verfaſſungen, die Preußiſche Verf.-Urk. v. 31. Januar 1850 folgte der herrſchenden Theorie von der Gleichartigkeit der Funktionen, welche der König und der Landtag hinſichtlich der Geſetzgebung auszuüben haben, indem ſie im Art. 62 beſtimmte: „Die geſetzgebende Gewalt wird gemeinſchaftlich durch den König und durch zwei Kammern ausgeübt. Die Uebereinſtimmung des Königs und beider Kammern iſt zu jedem Geſetze erforderlich.“ Dieſer Beſtimmung gegenüber ſuchte man die Untheilbarkeit der dem Könige zuſtehenden Souveränetät durch die theoretiſche Unter- ſcheidung zwiſchen jus und exercitium iuris zu retten. Das Recht der Geſetzgebung ſtehe dem Könige zu, die Ausübung erfolge in Gemeinſchaft mit dem Landtage 1). Und doch konnte man ſich nicht verhehlen, daß nur die Sanction einen Entwurf zum Geſetz erhebt, an dieſer Sanction aber der Landtag weder quoad jus noch quoad exercitium einen Antheil hat 2). Die Faſſung der Preuß. Verf.-Urk. iſt auch für die Ausdrucks- weiſe der Norddeutſchen Bundesverfaſſung und der Reichsverf. von maßgebendem Einfluß geworden; der Art. 5 Abſ. 1 der R.-V. lehnt ſich eng an den Art. 62 der Preuß. V.-U. an. Um ſo weniger darf man ſich dieſer Beſtimmung gegenüber mit einer bloßen Wort- Interpretation begnügen. Der Wortlaut des Art. 5, wonach die Uebereinſtimmung der Mehrheitsbeſchlüſſe des Bundesrathes und des Reichstags zu einem Reichsgeſetze erforderlich und ausreichend iſt, widerſpricht nicht nur der Natur der Sache, ſondern auch den Anordnungen der Artikel 2 und 17 der R.-V. Uebereinſtimmende Mehrheitsbeſchlüſſe der beiden Verſammlungen ſind zu einem Reichsgeſetze zwar erforder- lich, aber nicht ausreichend. Wäre dies der Fall, ſo müßte eine 1) v. Rönne, Preuß. Staatsr. I. 1. S. 172 erklärt, die geſetzgebende Gewalt ſei ein Ausfluß der Staatsgewalt und ſtehe daher dem Könige, als dem Oberhaupte der ungetheilten Staatsgewalt zu. Gleich darauf S. 176 aber heißt es, die geſetzgebende Gewalt ſtehe dem Könige und den bei- den Kammern gemeinſchaftlich zu und es wird daraus ſogar de- ducirt, daß es nicht einmal möglich ſei, die Ausübung der Geſetzgebungsgewalt dem Könige zu delegiren. 2) Vrgl. beſonders Schultze, Preuß. Staatsr. I. S. 159, II. S. 221 und v. Rönne a. a. O. I. 1 §. 48 (S. 197 Note 8).

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/23>, abgerufen am 29.03.2024.