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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 3, Abt. 2. Freiburg (Breisgau) u. a., 1882.

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§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelstaaten.
Staatsgewalt folgt, ist durch das bundesstaatliche Verhältniß der
Deutschen Staaten beseitigt und durch das Prinzip ersetzt worden,
daß die (staatsrechtliche) Rechtskraft der Entscheidungen und End-
urtheile der ordentlichen Gerichte sich auf das ganze Bundesgebiet
erstreckt. Das Gleiche gilt hinsichtlich der Wirkungen der bei einem
Gerichte eingetretenen Rechtshängigkeit, sowie in Bezug auf die
verpflichtende Kraft der zur Erledigung der Prozesse erforderlichen
richterlichen Gebote oder Verbote an Personen, die sich im Bundes-
gebiet befinden 1).

Mithin übt jeder einzelne Staat eine Gerichtsbarkeit über
das ganze Bundesgebiet aus und weder die Gültigkeit noch die
Erzwingbarkeit der von seinen Gerichten erlassenen Befehle ist da-
von bedingt, daß die Personen, an welche sie gerichtet sind, gerade
diesem Staate angehören oder in seinem Gebiete ihren Wohnsitz
oder Aufenthalt haben. In dieser Beziehung bedarf es daher keiner
Rechtshilfe unter den Staaten; sie wäre gegenstandslos 2). Die
Durchführung dieses Prinzips ist aber nur möglich, wenn für die
Gerichte sämmtlicher Bundesstaaten dieselben Zuständigkeitsnormen
gelten, weil sonst die Gerichtsgewalten der verschiedenen Staaten
mit einander in Collision gerathen würden. Daher ist die Ge-
richtsbarkeit jedes einzelnen Staates zwar nach der einen Seite
sehr erheblich erweitert, indem sie auf das ganze Bundesgebiet
sich erstreckt; nach der anderen Seite aber wesentlich beschränkt,
indem sie nur nach Maßgabe der reichsgesetzlichen Vorschriften über
die Zuständigkeit der Gerichte ausgeübt werden darf. Die in den
Reichsgesetzen enthaltenen Regeln über die sachliche und örtliche
Zuständigkeit der Gerichte setzen der Gerichtsbarkeit d. h. der Staats-
gewalt der Einzelstaaten feste Gränzen und entkleiden sie dadurch
des Merkmals der Souveränetät.

2. Die Ausdehnung der Gerichtsbarkeit jedes Bundesstaats
über das ganze Bundesgebiet erfordert nicht nur einheitliche Nor-
men über die Zuständigkeit der einzelnen Gerichte, sondern auch
eine Garantie für gleichmäßige und übereinstimmende Auslegung
und Handhabung der Gesetze (Rechtsnormen). Diese Garantie kann

1) Vgl. Motive zum Gerichtsverfassungsges. S. 189. (Hahn S. 168.)
Kommissionsbericht S. 66 a. E. (Hahn S. 974.)
2) Vgl. unten §. 100.

§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.
Staatsgewalt folgt, iſt durch das bundesſtaatliche Verhältniß der
Deutſchen Staaten beſeitigt und durch das Prinzip erſetzt worden,
daß die (ſtaatsrechtliche) Rechtskraft der Entſcheidungen und End-
urtheile der ordentlichen Gerichte ſich auf das ganze Bundesgebiet
erſtreckt. Das Gleiche gilt hinſichtlich der Wirkungen der bei einem
Gerichte eingetretenen Rechtshängigkeit, ſowie in Bezug auf die
verpflichtende Kraft der zur Erledigung der Prozeſſe erforderlichen
richterlichen Gebote oder Verbote an Perſonen, die ſich im Bundes-
gebiet befinden 1).

Mithin übt jeder einzelne Staat eine Gerichtsbarkeit über
das ganze Bundesgebiet aus und weder die Gültigkeit noch die
Erzwingbarkeit der von ſeinen Gerichten erlaſſenen Befehle iſt da-
von bedingt, daß die Perſonen, an welche ſie gerichtet ſind, gerade
dieſem Staate angehören oder in ſeinem Gebiete ihren Wohnſitz
oder Aufenthalt haben. In dieſer Beziehung bedarf es daher keiner
Rechtshilfe unter den Staaten; ſie wäre gegenſtandslos 2). Die
Durchführung dieſes Prinzips iſt aber nur möglich, wenn für die
Gerichte ſämmtlicher Bundesſtaaten dieſelben Zuſtändigkeitsnormen
gelten, weil ſonſt die Gerichtsgewalten der verſchiedenen Staaten
mit einander in Colliſion gerathen würden. Daher iſt die Ge-
richtsbarkeit jedes einzelnen Staates zwar nach der einen Seite
ſehr erheblich erweitert, indem ſie auf das ganze Bundesgebiet
ſich erſtreckt; nach der anderen Seite aber weſentlich beſchränkt,
indem ſie nur nach Maßgabe der reichsgeſetzlichen Vorſchriften über
die Zuſtändigkeit der Gerichte ausgeübt werden darf. Die in den
Reichsgeſetzen enthaltenen Regeln über die ſachliche und örtliche
Zuſtändigkeit der Gerichte ſetzen der Gerichtsbarkeit d. h. der Staats-
gewalt der Einzelſtaaten feſte Gränzen und entkleiden ſie dadurch
des Merkmals der Souveränetät.

2. Die Ausdehnung der Gerichtsbarkeit jedes Bundesſtaats
über das ganze Bundesgebiet erfordert nicht nur einheitliche Nor-
men über die Zuſtändigkeit der einzelnen Gerichte, ſondern auch
eine Garantie für gleichmäßige und übereinſtimmende Auslegung
und Handhabung der Geſetze (Rechtsnormen). Dieſe Garantie kann

1) Vgl. Motive zum Gerichtsverfaſſungsgeſ. S. 189. (Hahn S. 168.)
Kommiſſionsbericht S. 66 a. E. (Hahn S. 974.)
2) Vgl. unten §. 100.
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[48/0058] §. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten. Staatsgewalt folgt, iſt durch das bundesſtaatliche Verhältniß der Deutſchen Staaten beſeitigt und durch das Prinzip erſetzt worden, daß die (ſtaatsrechtliche) Rechtskraft der Entſcheidungen und End- urtheile der ordentlichen Gerichte ſich auf das ganze Bundesgebiet erſtreckt. Das Gleiche gilt hinſichtlich der Wirkungen der bei einem Gerichte eingetretenen Rechtshängigkeit, ſowie in Bezug auf die verpflichtende Kraft der zur Erledigung der Prozeſſe erforderlichen richterlichen Gebote oder Verbote an Perſonen, die ſich im Bundes- gebiet befinden 1). Mithin übt jeder einzelne Staat eine Gerichtsbarkeit über das ganze Bundesgebiet aus und weder die Gültigkeit noch die Erzwingbarkeit der von ſeinen Gerichten erlaſſenen Befehle iſt da- von bedingt, daß die Perſonen, an welche ſie gerichtet ſind, gerade dieſem Staate angehören oder in ſeinem Gebiete ihren Wohnſitz oder Aufenthalt haben. In dieſer Beziehung bedarf es daher keiner Rechtshilfe unter den Staaten; ſie wäre gegenſtandslos 2). Die Durchführung dieſes Prinzips iſt aber nur möglich, wenn für die Gerichte ſämmtlicher Bundesſtaaten dieſelben Zuſtändigkeitsnormen gelten, weil ſonſt die Gerichtsgewalten der verſchiedenen Staaten mit einander in Colliſion gerathen würden. Daher iſt die Ge- richtsbarkeit jedes einzelnen Staates zwar nach der einen Seite ſehr erheblich erweitert, indem ſie auf das ganze Bundesgebiet ſich erſtreckt; nach der anderen Seite aber weſentlich beſchränkt, indem ſie nur nach Maßgabe der reichsgeſetzlichen Vorſchriften über die Zuſtändigkeit der Gerichte ausgeübt werden darf. Die in den Reichsgeſetzen enthaltenen Regeln über die ſachliche und örtliche Zuſtändigkeit der Gerichte ſetzen der Gerichtsbarkeit d. h. der Staats- gewalt der Einzelſtaaten feſte Gränzen und entkleiden ſie dadurch des Merkmals der Souveränetät. 2. Die Ausdehnung der Gerichtsbarkeit jedes Bundesſtaats über das ganze Bundesgebiet erfordert nicht nur einheitliche Nor- men über die Zuſtändigkeit der einzelnen Gerichte, ſondern auch eine Garantie für gleichmäßige und übereinſtimmende Auslegung und Handhabung der Geſetze (Rechtsnormen). Dieſe Garantie kann 1) Vgl. Motive zum Gerichtsverfaſſungsgeſ. S. 189. (Hahn S. 168.) Kommiſſionsbericht S. 66 a. E. (Hahn S. 974.) 2) Vgl. unten §. 100.

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 3, Abt. 2. Freiburg (Breisgau) u. a., 1882, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht0302_1882/58>, abgerufen am 25.04.2024.