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Lachmann, Karl: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin, 1816.

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dies Mähre dichtete, erzähle, er habe gern schreiben wol-
len, was endlich mit Etzel geworden sei, wenn er es nur
in der Welt von jemand hätte erfahren können. Daraus
erhellet also, daß das Werk nicht unsere Nibelungennoth,
sondern wenigstens am Ende weit vollständiger war.

Daß es aber auch nicht unser Gedicht, etwa nur mit
dem Anhange eines Liedes, einer Aventüre von der Klage
31), gewesen, ergibt sich schon daraus, daß die Grundan-
sicht unserer Nibelungen, Freude und Leid, nirgend er-
wähnt wird, womit der Dichter Etzeln und die übrigen,
die so viele Trostgründe aufsuchen, sich gewiß wenigstens
einmahl würde haben beruhigen lassen, wenn sie ihm das
Gedicht an die Hand gegeben hätte. Hingegen findet sich
zwar auch der Gedanke, daß um Siegfrieds Tod so man-
cher kühne Mann sein Leben habe lassen müssen (Z. 1422.
4000); und Brünhild beklagt selbst, daß sie Kriemhilden
je gesehen, die ihr mit Rede den Muth erzürnt, wodurch
Siegfried das Leben verloren (Z. 4174):
Davon ich nu den schaden han.
Ir wart ir freude von mir benomen:
Daz ist ouch mir nu leider komen
Heim mit grozen ruwen:

aber es kommt daneben eine andere unserem Gedichte völ-
lig fremde Ansicht zum Vorschein, daß dies große Unglück,
welches die Burgunden getroffen, die Strafe für eine alte
Schuld und zwar für den Kriemhilden geraubten Nibelun-
genhort gewesen (Z. 263. 1426 -- 1438. 226 -- 231). Wenn
aber diese vielleicht dem Verfasser der Klage selbst ange-
hört, so schreibt dieser dafür dem früheren Dichter aus-
drücklich eine andere den Nibelungen nicht minder unbe-

dies Mähre dichtete, erzähle, er habe gern ſchreiben wol-
len, was endlich mit Etzel geworden ſei, wenn er es nur
in der Welt von jemand hätte erfahren können. Daraus
erhellet alſo, daß das Werk nicht unſere Nibelungennoth,
ſondern wenigſtens am Ende weit vollſtändiger war.

Daß es aber auch nicht unſer Gedicht, etwa nur mit
dem Anhange eines Liedes, einer Aventüre von der Klage
31), geweſen, ergibt ſich ſchon daraus, daß die Grundan-
ſicht unſerer Nibelungen, Freude und Leid, nirgend er-
wähnt wird, womit der Dichter Etzeln und die übrigen,
die ſo viele Troſtgründe aufſuchen, ſich gewiß wenigſtens
einmahl würde haben beruhigen laſſen, wenn ſie ihm das
Gedicht an die Hand gegeben hätte. Hingegen findet ſich
zwar auch der Gedanke, daß um Siegfrieds Tod ſo man-
cher kühne Mann ſein Leben habe laſſen müſſen (Z. 1422.
4000); und Brünhild beklagt ſelbſt, daß ſie Kriemhilden
je geſehen, die ihr mit Rede den Muth erzürnt, wodurch
Siegfried das Leben verloren (Z. 4174):
Davon ich nu den ſchaden han.
Ir wart ir freude von mir benomen:
Daz iſt oͧch mir nu leider komen
Heim mit grozen ru̓wen:

aber es kommt daneben eine andere unſerem Gedichte völ-
lig fremde Anſicht zum Vorſchein, daß dies große Unglück,
welches die Burgunden getroffen, die Strafe für eine alte
Schuld und zwar für den Kriemhilden geraubten Nibelun-
genhort geweſen (Z. 263. 1426 — 1438. 226 — 231). Wenn
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[37/0045] dies Mähre dichtete, erzähle, er habe gern ſchreiben wol- len, was endlich mit Etzel geworden ſei, wenn er es nur in der Welt von jemand hätte erfahren können. Daraus erhellet alſo, daß das Werk nicht unſere Nibelungennoth, ſondern wenigſtens am Ende weit vollſtändiger war. Daß es aber auch nicht unſer Gedicht, etwa nur mit dem Anhange eines Liedes, einer Aventüre von der Klage ³¹⁾ , geweſen, ergibt ſich ſchon daraus, daß die Grundan- ſicht unſerer Nibelungen, Freude und Leid, nirgend er- wähnt wird, womit der Dichter Etzeln und die übrigen, die ſo viele Troſtgründe aufſuchen, ſich gewiß wenigſtens einmahl würde haben beruhigen laſſen, wenn ſie ihm das Gedicht an die Hand gegeben hätte. Hingegen findet ſich zwar auch der Gedanke, daß um Siegfrieds Tod ſo man- cher kühne Mann ſein Leben habe laſſen müſſen (Z. 1422. 4000); und Brünhild beklagt ſelbſt, daß ſie Kriemhilden je geſehen, die ihr mit Rede den Muth erzürnt, wodurch Siegfried das Leben verloren (Z. 4174): Davon ich nu den ſchaden han. Ir wart ir freude von mir benomen: Daz iſt oͧch mir nu leider komen Heim mit grozen ru̓wen: aber es kommt daneben eine andere unſerem Gedichte völ- lig fremde Anſicht zum Vorſchein, daß dies große Unglück, welches die Burgunden getroffen, die Strafe für eine alte Schuld und zwar für den Kriemhilden geraubten Nibelun- genhort geweſen (Z. 263. 1426 — 1438. 226 — 231). Wenn aber dieſe vielleicht dem Verfaſſer der Klage ſelbſt ange- hört, ſo ſchreibt dieſer dafür dem früheren Dichter aus- drücklich eine andere den Nibelungen nicht minder unbe-

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Zitationshilfe: Lachmann, Karl: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin, 1816, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lachmann_nibelungen_1816/45>, abgerufen am 28.03.2024.