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Lachmann, Karl: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin, 1816.

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weniger darin verzeichnet finden, eben kein höheres Alter,
als jener zuschreiben darf. Die Erwähnung dieser Perso-
nen ist überhaupt einer der wichtigsten Punkte der Unter-
suchung; überall zeigt sich das Bestreben, die, welche in
einzelnen Liedern handelnd auftreten, auch in die anderen
einzuführen. Daß der Sanct-Galler Recension die erste
Strophe fehlt, die alle übrigen anerkennen, mag immerhin
bloßer Zufall sein; die dritte,
Der minneclichen meide truten wol gezam etc.

wurde wohl mit feinem Gefühl absichtlich weggelassen,
als in den ersten Anfang des Gedichtes nicht passend, wo
noch keine Theilnahme für eine einzelne Person erweckt,
sondern die Hörer nur mit allen bekannt und auf ihr end-
liches Schicksal aufmerksam gemacht werden sollten.

Der nun folgende Traum Kriemhildens ist gewiß nicht
von dem Dichter unseres Liedes erfunden, da sich noch eine
mythische Beziehung darauf anderweit nachweisen läßt 54).
Dennoch möchte ich den Abschnitt, wenn er auch aus ei-
nem älteren Liede genommen wurde, in dieser schönen
Form, so zart gehalten in jeder Zeile, nur dem Dichter zu-
schreiben, dem wir die letzte Gestalt des Ganzen ver-
danken; wofür auch die in einer Strophe ganz durchge-
führten Mittelreime 55) und der am Ende des Gedichts
wiederhohlte Gedanke, daß Freude zuletzt immer Leid
gebe, zu sprechen scheinen. Der Sanct-Gallische Ver-
besserer fand in diesem Liede nur Weniges zu ändern,
das er mit großer Geschicklichkeit besser und gefälliger
einrichtete 56).

weniger darin verzeichnet finden, eben kein höheres Alter,
als jener zuſchreiben darf. Die Erwähnung dieſer Perſo-
nen iſt überhaupt einer der wichtigſten Punkte der Unter-
ſuchung; überall zeigt ſich das Beſtreben, die, welche in
einzelnen Liedern handelnd auftreten, auch in die anderen
einzuführen. Daß der Sanct-Galler Recenſion die erſte
Strophe fehlt, die alle übrigen anerkennen, mag immerhin
bloßer Zufall ſein; die dritte,
Der minneclichen meide truten wol gezam ꝛc.

wurde wohl mit feinem Gefühl abſichtlich weggelaſſen,
als in den erſten Anfang des Gedichtes nicht paſſend, wo
noch keine Theilnahme für eine einzelne Perſon erweckt,
ſondern die Hörer nur mit allen bekannt und auf ihr end-
liches Schickſal aufmerkſam gemacht werden ſollten.

Der nun folgende Traum Kriemhildens iſt gewiß nicht
von dem Dichter unſeres Liedes erfunden, da ſich noch eine
mythiſche Beziehung darauf anderweit nachweiſen läßt 54).
Dennoch möchte ich den Abſchnitt, wenn er auch aus ei-
nem älteren Liede genommen wurde, in dieſer ſchönen
Form, ſo zart gehalten in jeder Zeile, nur dem Dichter zu-
ſchreiben, dem wir die letzte Geſtalt des Ganzen ver-
danken; wofür auch die in einer Strophe ganz durchge-
führten Mittelreime 55) und der am Ende des Gedichts
wiederhohlte Gedanke, daß Freude zuletzt immer Leid
gebe, zu ſprechen ſcheinen. Der Sanct-Galliſche Ver-
beſſerer fand in dieſem Liede nur Weniges zu ändern,
das er mit großer Geſchicklichkeit beſſer und gefälliger
einrichtete 56).

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[70/0078] weniger darin verzeichnet finden, eben kein höheres Alter, als jener zuſchreiben darf. Die Erwähnung dieſer Perſo- nen iſt überhaupt einer der wichtigſten Punkte der Unter- ſuchung; überall zeigt ſich das Beſtreben, die, welche in einzelnen Liedern handelnd auftreten, auch in die anderen einzuführen. Daß der Sanct-Galler Recenſion die erſte Strophe fehlt, die alle übrigen anerkennen, mag immerhin bloßer Zufall ſein; die dritte, Der minneclichen meide truten wol gezam ꝛc. wurde wohl mit feinem Gefühl abſichtlich weggelaſſen, als in den erſten Anfang des Gedichtes nicht paſſend, wo noch keine Theilnahme für eine einzelne Perſon erweckt, ſondern die Hörer nur mit allen bekannt und auf ihr end- liches Schickſal aufmerkſam gemacht werden ſollten. Der nun folgende Traum Kriemhildens iſt gewiß nicht von dem Dichter unſeres Liedes erfunden, da ſich noch eine mythiſche Beziehung darauf anderweit nachweiſen läßt ⁵⁴⁾ . Dennoch möchte ich den Abſchnitt, wenn er auch aus ei- nem älteren Liede genommen wurde, in dieſer ſchönen Form, ſo zart gehalten in jeder Zeile, nur dem Dichter zu- ſchreiben, dem wir die letzte Geſtalt des Ganzen ver- danken; wofür auch die in einer Strophe ganz durchge- führten Mittelreime ⁵⁵⁾ und der am Ende des Gedichts wiederhohlte Gedanke, daß Freude zuletzt immer Leid gebe, zu ſprechen ſcheinen. Der Sanct-Galliſche Ver- beſſerer fand in dieſem Liede nur Weniges zu ändern, das er mit großer Geſchicklichkeit beſſer und gefälliger einrichtete ⁵⁶⁾ .

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Zitationshilfe: Lachmann, Karl: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin, 1816, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lachmann_nibelungen_1816/78>, abgerufen am 19.04.2024.