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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771.

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zu sehr ein, daß es eine moralische Unmög-
lichkeit ist. Jch nehme keinem übel, daß
der Morgen am Putztische, der Nachmittag
in Besuchen, der Abend und die Nacht
mit Spielen hingebracht wird. Es ist
hier die große Welt, und diese hat die
Einrichtung ihres Lebens mit dieser Haupt-
eintheilung angefangen. Jch bin auch
sehr von der Verwunderung zurückgekom-
men, in die ich sonst gerieth, wenn ich an
Personen, die meine selige Großmama be-
suchten, einen so großen Mangel an gu-
ten Kenntnissen sah, da sie doch von Na-
tur mit vielen Fähigkeiten begabt waren.
Es ist nicht möglich, meine Liebe, daß
eine junge Person in diesem betäubenden
Geräusche von lermenden Zeitvertreiben
einen Augenblick finde, mich zu sammeln.
Kurz, alle hier, sind an diese Lebensart und
an die herrschenden Begriffe von Glück
und Vergnügen gewöhnt, und lieben sie
eben so, wie ich die Grundsätze und Be-
griffe liebe, welche Unterricht und Bey-
spiel in meine Seele gelegt haben. Aber
man ist mit meiner Nachsicht, mit meiner

Billigkeit

zu ſehr ein, daß es eine moraliſche Unmoͤg-
lichkeit iſt. Jch nehme keinem uͤbel, daß
der Morgen am Putztiſche, der Nachmittag
in Beſuchen, der Abend und die Nacht
mit Spielen hingebracht wird. Es iſt
hier die große Welt, und dieſe hat die
Einrichtung ihres Lebens mit dieſer Haupt-
eintheilung angefangen. Jch bin auch
ſehr von der Verwunderung zuruͤckgekom-
men, in die ich ſonſt gerieth, wenn ich an
Perſonen, die meine ſelige Großmama be-
ſuchten, einen ſo großen Mangel an gu-
ten Kenntniſſen ſah, da ſie doch von Na-
tur mit vielen Faͤhigkeiten begabt waren.
Es iſt nicht moͤglich, meine Liebe, daß
eine junge Perſon in dieſem betaͤubenden
Geraͤuſche von lermenden Zeitvertreiben
einen Augenblick finde, mich zu ſammeln.
Kurz, alle hier, ſind an dieſe Lebensart und
an die herrſchenden Begriffe von Gluͤck
und Vergnuͤgen gewoͤhnt, und lieben ſie
eben ſo, wie ich die Grundſaͤtze und Be-
griffe liebe, welche Unterricht und Bey-
ſpiel in meine Seele gelegt haben. Aber
man iſt mit meiner Nachſicht, mit meiner

Billigkeit
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[157/0183] zu ſehr ein, daß es eine moraliſche Unmoͤg- lichkeit iſt. Jch nehme keinem uͤbel, daß der Morgen am Putztiſche, der Nachmittag in Beſuchen, der Abend und die Nacht mit Spielen hingebracht wird. Es iſt hier die große Welt, und dieſe hat die Einrichtung ihres Lebens mit dieſer Haupt- eintheilung angefangen. Jch bin auch ſehr von der Verwunderung zuruͤckgekom- men, in die ich ſonſt gerieth, wenn ich an Perſonen, die meine ſelige Großmama be- ſuchten, einen ſo großen Mangel an gu- ten Kenntniſſen ſah, da ſie doch von Na- tur mit vielen Faͤhigkeiten begabt waren. Es iſt nicht moͤglich, meine Liebe, daß eine junge Perſon in dieſem betaͤubenden Geraͤuſche von lermenden Zeitvertreiben einen Augenblick finde, mich zu ſammeln. Kurz, alle hier, ſind an dieſe Lebensart und an die herrſchenden Begriffe von Gluͤck und Vergnuͤgen gewoͤhnt, und lieben ſie eben ſo, wie ich die Grundſaͤtze und Be- griffe liebe, welche Unterricht und Bey- ſpiel in meine Seele gelegt haben. Aber man iſt mit meiner Nachſicht, mit meiner Billigkeit

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Zitationshilfe: [La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771/183>, abgerufen am 29.03.2024.