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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771.

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der Hang zur Einsamkeit! warum ent-
fliehen diesem edeln gütigen Herzen so viele
Seufzer? -- O wenn du wüßtest; wie
sehr du mich diese lange Zeit deiner Me-
lancholie durch bekümmert hast; du wür-
dest mir dein Herz nicht verschlossen haben!

Hier wurde ihre Zärtlichkeit überwäl-
tiget. -- Sie zog ihre Hände nicht weg,
sie drückte ihres Bruders seine an ihre
Brust, und ihr Kopf sank auf seine Schul-
ter. "Bruder, du brichst mein Herz! ich
kann den Gedanken nicht ertragen, dir
Kummer gemacht zu haben! Jch liebe dich
wie mein Leben; ich bin glücklich, ertrage
mich, und rede mir niemals vom Hey-
rathen."

Warum das, mein Kind? Du würdest
einen rechtschaffenen Mann so glücklich
machen!

"Ja, ein rechtschaffener Mann wür-
de auch mich glücklich machen; aber ich
kenne --" Thränen hinderten sie, mehr
zu sagen. --

O Sophie -- hemme die aufrichtige
Bewegung deiner Seele nicht; schütte

ihre

der Hang zur Einſamkeit! warum ent-
fliehen dieſem edeln guͤtigen Herzen ſo viele
Seufzer? — O wenn du wuͤßteſt; wie
ſehr du mich dieſe lange Zeit deiner Me-
lancholie durch bekuͤmmert haſt; du wuͤr-
deſt mir dein Herz nicht verſchloſſen haben!

Hier wurde ihre Zaͤrtlichkeit uͤberwaͤl-
tiget. — Sie zog ihre Haͤnde nicht weg,
ſie druͤckte ihres Bruders ſeine an ihre
Bruſt, und ihr Kopf ſank auf ſeine Schul-
ter. „Bruder, du brichſt mein Herz! ich
kann den Gedanken nicht ertragen, dir
Kummer gemacht zu haben! Jch liebe dich
wie mein Leben; ich bin gluͤcklich, ertrage
mich, und rede mir niemals vom Hey-
rathen.“

Warum das, mein Kind? Du wuͤrdeſt
einen rechtſchaffenen Mann ſo gluͤcklich
machen!

„Ja, ein rechtſchaffener Mann wuͤr-
de auch mich gluͤcklich machen; aber ich
kenne —“ Thraͤnen hinderten ſie, mehr
zu ſagen. —

O Sophie — hemme die aufrichtige
Bewegung deiner Seele nicht; ſchuͤtte

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[18/0044] der Hang zur Einſamkeit! warum ent- fliehen dieſem edeln guͤtigen Herzen ſo viele Seufzer? — O wenn du wuͤßteſt; wie ſehr du mich dieſe lange Zeit deiner Me- lancholie durch bekuͤmmert haſt; du wuͤr- deſt mir dein Herz nicht verſchloſſen haben! Hier wurde ihre Zaͤrtlichkeit uͤberwaͤl- tiget. — Sie zog ihre Haͤnde nicht weg, ſie druͤckte ihres Bruders ſeine an ihre Bruſt, und ihr Kopf ſank auf ſeine Schul- ter. „Bruder, du brichſt mein Herz! ich kann den Gedanken nicht ertragen, dir Kummer gemacht zu haben! Jch liebe dich wie mein Leben; ich bin gluͤcklich, ertrage mich, und rede mir niemals vom Hey- rathen.“ Warum das, mein Kind? Du wuͤrdeſt einen rechtſchaffenen Mann ſo gluͤcklich machen! „Ja, ein rechtſchaffener Mann wuͤr- de auch mich gluͤcklich machen; aber ich kenne —“ Thraͤnen hinderten ſie, mehr zu ſagen. — O Sophie — hemme die aufrichtige Bewegung deiner Seele nicht; ſchuͤtte ihre

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Zitationshilfe: [La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771/44>, abgerufen am 29.03.2024.