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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771.

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Warum darf ein edeldenkendes, tugend-
haftes Mädchen nicht zuerst sagen, diesen
würdigen Mann liebe ich? warum ver-
giebt man ihr nicht, wenn sie ihm zu ge-
fallen sucht, und sich auf alle Weise um
seine Hochachtung bemühet? *)

Den Anlaß dieser Fragen gab mir Lord
Rich, dessen Geist alle Fesseln des Wahns
abgeworfen zu haben scheint, und der
allein der wahren Weisheit und Tugend
zu folgen denkt. Er bezeugt eine Art
Widerwillen gegen die zärtliche Neigung
der Miß Emma, von welcher er doch alle-
zeit mit der größten Achtung sprach, ih-
ren Verstand, ihr Herz rühmte, alle ihre
Handlungen seines Beyfalls würdigte,
und den ihrigen liebte. Nun setzt er
der sanften Glut, die seine Verdienste in
ihrem Herzen angefacht haben, nichts
als die kälteste Heftigkeit entgegen; und
gewiß aus dem nehmlichen Eigensinne

fängt
*) Diese Frage ist eben nicht schwer zu beant-
worten; das edeldenkende, tugendhafte
Mädchen darf dieß nicht, weil man keine
eigene Moral für sie machen kann.
L 5


Warum darf ein edeldenkendes, tugend-
haftes Maͤdchen nicht zuerſt ſagen, dieſen
wuͤrdigen Mann liebe ich? warum ver-
giebt man ihr nicht, wenn ſie ihm zu ge-
fallen ſucht, und ſich auf alle Weiſe um
ſeine Hochachtung bemuͤhet? *)

Den Anlaß dieſer Fragen gab mir Lord
Rich, deſſen Geiſt alle Feſſeln des Wahns
abgeworfen zu haben ſcheint, und der
allein der wahren Weisheit und Tugend
zu folgen denkt. Er bezeugt eine Art
Widerwillen gegen die zaͤrtliche Neigung
der Miß Emma, von welcher er doch alle-
zeit mit der groͤßten Achtung ſprach, ih-
ren Verſtand, ihr Herz ruͤhmte, alle ihre
Handlungen ſeines Beyfalls wuͤrdigte,
und den ihrigen liebte. Nun ſetzt er
der ſanften Glut, die ſeine Verdienſte in
ihrem Herzen angefacht haben, nichts
als die kaͤlteſte Heftigkeit entgegen; und
gewiß aus dem nehmlichen Eigenſinne

faͤngt
*) Dieſe Frage iſt eben nicht ſchwer zu beant-
worten; das edeldenkende, tugendhafte
Maͤdchen darf dieß nicht, weil man keine
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L 5
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[169/0175] Warum darf ein edeldenkendes, tugend- haftes Maͤdchen nicht zuerſt ſagen, dieſen wuͤrdigen Mann liebe ich? warum ver- giebt man ihr nicht, wenn ſie ihm zu ge- fallen ſucht, und ſich auf alle Weiſe um ſeine Hochachtung bemuͤhet? *) Den Anlaß dieſer Fragen gab mir Lord Rich, deſſen Geiſt alle Feſſeln des Wahns abgeworfen zu haben ſcheint, und der allein der wahren Weisheit und Tugend zu folgen denkt. Er bezeugt eine Art Widerwillen gegen die zaͤrtliche Neigung der Miß Emma, von welcher er doch alle- zeit mit der groͤßten Achtung ſprach, ih- ren Verſtand, ihr Herz ruͤhmte, alle ihre Handlungen ſeines Beyfalls wuͤrdigte, und den ihrigen liebte. Nun ſetzt er der ſanften Glut, die ſeine Verdienſte in ihrem Herzen angefacht haben, nichts als die kaͤlteſte Heftigkeit entgegen; und gewiß aus dem nehmlichen Eigenſinne faͤngt *) Dieſe Frage iſt eben nicht ſchwer zu beant- worten; das edeldenkende, tugendhafte Maͤdchen darf dieß nicht, weil man keine eigene Moral fuͤr ſie machen kann. L 5

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Zitationshilfe: [La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte02_1771/175>, abgerufen am 28.03.2024.