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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der moralischen und körperlichen Schönheit.

Wie hat der fette Tabaksschmaucher oben an der Tafel alle seinen Geist in Fleisch verwandelt!
welches Sattseyn ohne Genuß! welch unbewegliche Trägheit! und der, der neben ihm das Glas
in die Höhe hält -- wie erniedrigt ihn kleingeistiger Spott! Tolles Geschrey! Bosheit ohne Kraft!
Und der sich mit der Tabakspfeife anlehnt, in welcher stierigen gedankenlosen Genügsamkeit! Er
schaut hin, ohne was zu sehen! Er horcht, ohne zu hören! -- Wie niedrig der neben und unter
ihm mit der schiefen Parucke, mit dem schiefen liebäugelnden Gesichte! und der neben diesem mit
der Pfeife in der einen, mit der andern Hand auf sich deutend, mit dem eingekerbten Kinn, dem
etwas über sich schauenden Auge, unvermögend, einen Menschen zu intereßiren, oder etwas hervor-
zubringen -- überhaupt, in allen diesen schändlichen Gesichtern die Zerstreuung, die Nichttheil-
nehmung, die Atonie, die der Ueppigkeit eigen ist --

Die Vignette dieses Blattes ist ein Porträt eines durch Brandtewein entnervten gichti-
schen unbekannten Menschen, der in einem Hospitale vermuthlich sich selbst und der menschlichen Ge-
sellschaft zur Last war. Jch hätte gewünscht, daß der Zeichner ihn nicht verschönert hätte, welches
ich wenigstens aus dem Auge zu vermuthen Ursach habe! der Mann muß sonst gewiß nicht der
schlechteste in seinen Anlagen gewesen seyn! -- und wenn er nicht Verstand im Handeln gezeigt
hat, so hat er doch sicherlich in die Classe derer gehört, die Talente hatten, die sie sehr gut hätten
nutzen können.

[Abbildung]

Siebente
Phys. Fragm. I. Versuch. O
der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.

Wie hat der fette Tabaksſchmaucher oben an der Tafel alle ſeinen Geiſt in Fleiſch verwandelt!
welches Sattſeyn ohne Genuß! welch unbewegliche Traͤgheit! und der, der neben ihm das Glas
in die Hoͤhe haͤlt — wie erniedrigt ihn kleingeiſtiger Spott! Tolles Geſchrey! Bosheit ohne Kraft!
Und der ſich mit der Tabakspfeife anlehnt, in welcher ſtierigen gedankenloſen Genuͤgſamkeit! Er
ſchaut hin, ohne was zu ſehen! Er horcht, ohne zu hoͤren! — Wie niedrig der neben und unter
ihm mit der ſchiefen Parucke, mit dem ſchiefen liebaͤugelnden Geſichte! und der neben dieſem mit
der Pfeife in der einen, mit der andern Hand auf ſich deutend, mit dem eingekerbten Kinn, dem
etwas uͤber ſich ſchauenden Auge, unvermoͤgend, einen Menſchen zu intereßiren, oder etwas hervor-
zubringen — uͤberhaupt, in allen dieſen ſchaͤndlichen Geſichtern die Zerſtreuung, die Nichttheil-
nehmung, die Atonie, die der Ueppigkeit eigen iſt —

Die Vignette dieſes Blattes iſt ein Portraͤt eines durch Brandtewein entnervten gichti-
ſchen unbekannten Menſchen, der in einem Hoſpitale vermuthlich ſich ſelbſt und der menſchlichen Ge-
ſellſchaft zur Laſt war. Jch haͤtte gewuͤnſcht, daß der Zeichner ihn nicht verſchoͤnert haͤtte, welches
ich wenigſtens aus dem Auge zu vermuthen Urſach habe! der Mann muß ſonſt gewiß nicht der
ſchlechteſte in ſeinen Anlagen geweſen ſeyn! — und wenn er nicht Verſtand im Handeln gezeigt
hat, ſo hat er doch ſicherlich in die Claſſe derer gehoͤrt, die Talente hatten, die ſie ſehr gut haͤtten
nutzen koͤnnen.

[Abbildung]

Siebente
Phyſ. Fragm. I. Verſuch. O
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[97/0135] der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. Wie hat der fette Tabaksſchmaucher oben an der Tafel alle ſeinen Geiſt in Fleiſch verwandelt! welches Sattſeyn ohne Genuß! welch unbewegliche Traͤgheit! und der, der neben ihm das Glas in die Hoͤhe haͤlt — wie erniedrigt ihn kleingeiſtiger Spott! Tolles Geſchrey! Bosheit ohne Kraft! Und der ſich mit der Tabakspfeife anlehnt, in welcher ſtierigen gedankenloſen Genuͤgſamkeit! Er ſchaut hin, ohne was zu ſehen! Er horcht, ohne zu hoͤren! — Wie niedrig der neben und unter ihm mit der ſchiefen Parucke, mit dem ſchiefen liebaͤugelnden Geſichte! und der neben dieſem mit der Pfeife in der einen, mit der andern Hand auf ſich deutend, mit dem eingekerbten Kinn, dem etwas uͤber ſich ſchauenden Auge, unvermoͤgend, einen Menſchen zu intereßiren, oder etwas hervor- zubringen — uͤberhaupt, in allen dieſen ſchaͤndlichen Geſichtern die Zerſtreuung, die Nichttheil- nehmung, die Atonie, die der Ueppigkeit eigen iſt — Die Vignette dieſes Blattes iſt ein Portraͤt eines durch Brandtewein entnervten gichti- ſchen unbekannten Menſchen, der in einem Hoſpitale vermuthlich ſich ſelbſt und der menſchlichen Ge- ſellſchaft zur Laſt war. Jch haͤtte gewuͤnſcht, daß der Zeichner ihn nicht verſchoͤnert haͤtte, welches ich wenigſtens aus dem Auge zu vermuthen Urſach habe! der Mann muß ſonſt gewiß nicht der ſchlechteſte in ſeinen Anlagen geweſen ſeyn! — und wenn er nicht Verſtand im Handeln gezeigt hat, ſo hat er doch ſicherlich in die Claſſe derer gehoͤrt, die Talente hatten, die ſie ſehr gut haͤtten nutzen koͤnnen. [Abbildung] Siebente Phyſ. Fragm. I. Verſuch. O

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/135>, abgerufen am 25.04.2024.